»Das spielt keine Rolle!« Überwältigt von Eifersucht und Haß, trat Caramon auf seinen Bruder zu, der dasaß und mit diesem seltsamen Gesichtsausdruck wartete.
»Versuch es!« befahl Raistlin wieder.
Caramon hob sein Schwert.
»General Caramon!« Stimmen schrien von draußen, schnelle Schritte waren zu hören.
Mit einem Fluch senkte Caramon das Schwert und starrte, von Zornestränen halbblind, seinen Bruder an.
»General! Wo bist du?«
»Hier!« schrie Caramon schließlich. Er wandte sich von seinem Bruder ab, warf das Schwert in die Scheide zurück und riß den Zeltvorhang auf. »Was ist los?«
»General, ich... Deine Hände! Sie sind verbrannt...«
»Mach dir keine Gedanken! Was ist los?«
»Die Hexe, General! Sie ist verschwunden!«
»Verschwunden?« wiederholte Caramon beunruhigt. Er warf seinem Bruder einen bösartigen Blick zu und eilte hinaus.
Raistlin hörte seine dröhnende Stimme Erklärungen verlangen, die die Männer ihm gaben. Raistlin schloß seufzend die Augen. Caramon war es nicht erlaubt worden, ihn zu töten.
Vor ihm, sich in einer gradlinigen Spur erstreckend, führten ihn die Fußstapfen unerbittlich weiter.
14
Caramon hatte einmal Crysanias Reitkunst gelobt. Bevor sie mit Tanis, dem Halbelf, von Palanthas auf die Suche nach dem magischen Wald von Wayreth gegangen war, war sie einem Pferd niemals näher gewesen als in einer der eleganten Kutschen ihres Vaters. Frauen von Palanthas ritten nicht, nicht einmal zum Vergnügen wie die anderen solamnischen Frauen.
Aber das war in ihrem anderen Leben gewesen.
Ihr anderes Leben. Crysania lächelte bitter, während sie sich über den Hals ihres Pferdes lehnte, ihre Fersen in seine Flanken grub und es zu schnellerem Lauf antrieb.
Sie unterdrückte einen Seufzer und duckte sich, um niedrigen Zweigen auszuweichen. Sie blickte nicht zurück. Man würde nicht so schnell die Verfolgung aufnehmen, hoffte sie. Die Boten waren da – Caramon mußte sich erst einmal um sie kümmern —, und er wagte nicht, ihr einen seiner Leibwächter nachzuschicken. Nicht nach einer Hexe!
Plötzlich lachte Crysania. Wenn überhaupt jemand wie eine Hexe aussah, dann sie! Sie hatte sich nicht darum geschert, ihre zerrissenen Roben zu wechseln. Als Caramon sie im Wald gefunden hatte, hatte er die Roben mit Schnallen seines Umhangs befestigt. Die Roben waren seit langem nicht mehr schneeweiß; zerrissen und verschmutzt, flatterten sie an ihr wie Federn.
Sie ritt aus dem Wald. Vor ihr erstreckte sich Grasland, und das Pferd fing zu galoppieren an. Crysania gab sich dem Vergnügen des schnellen Rittes hin. Die warme Nachmittagssonne war ein angenehmer Gegensatz zu dem scharfen Wind in ihrem Gesicht. Zu ihrer Rechten glitzerten die schneebedeckten Gipfel des Garnetgebirges im hellen Sonnenschein. Schließlich verlangsamte sie ihr Tempo und lenkte das Pferd in Richtung der fernen Wälder.
Caramon war erst eine Stunde nach Crysanias Verschwinden in der Lage, ihre Verfolgung aufzunehmen. Wie Crysania vorausgesehen hatte, mußte er den Boten die Dringlichkeit seines Aufbruchs erklären und sicherstellen, daß sie nicht beleidigt waren. Das nahm einige Zeit in Anspruch, und schließlich sagte er klipp und klar, was sie sowieso im Lager hören würden – daß sie seine Frau sei und weggelaufen sei.
Der Barbar aus den Ebenen nickte verstehend. Die Frauen seines Stammes, die wegen ihrer Wildheit bekannt waren, setzten sich auch zuweilen solche Dinge in den Kopf. Sein Vorschlag war, daß Caramon ihr die Haare abschneiden solle – das Zeichen einer ungehorsamen Frau —, wenn er sie wieder einfing. Der Zwerg war etwas erstaunt, denn eine Zwergin würde, sobald sie von ihrem Haus und Ehemann weglaufen wollte, daran denken, ihren Bart zu rasieren. Aber ihm kam zu Bewußtsein, daß er sich ja unter Menschen befand, und was konnte man da schon erwarten?
Beide wünschten Caramon einen schnellen Erfolg und machten es sich bequem, um sich am Biervorrat des Lagers zu laben. Einen Seufzer der Erleichterung ausstoßend, eilte Caramon zu Garik, der ein Pferd gesattelt hatte und für ihn bereithielt.
»Wir haben ihre Spur aufgenommen, General«, berichtete der junge Mann. »Sie ritt nach Norden und folgte einer Tierfährte in den Wald. Sie ist auf einem schnellen Pferd unterwegs.« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Sie hat eines der besten gestohlen. Meiner Meinung nach spricht das für sie. Aber ich glaube nicht, daß sie weit kommt.«
Caramon stieg auf das Pferd. »Ich danke dir, Garik«, begann er, hielt aber inne, als ein anderes Pferd vorgeführt wurde. »Was ist das?« knurrte er. »Ich sagte doch, ich reite allein...«
»Ich komme mit, mein Bruder«, ertönte eine Stimme aus dem Schatten.
Caramon sah sich um. Der Erzmagier trat im schwarzen Reiseumhang und in Stiefeln aus seinem Zelt. Caramons Blick verdüsterte sich, aber Garik half Raistlin bereits beim Besteigen des unruhigen schwarzen Pferdes, das der Erzmagier bevorzugte. Caramon wagte nicht, vor den Männern etwas zu sagen, und sein Bruder wußte das. Er sah das amüsierte Glitzern in Raistlins Augen.
»Dann reiten wir also los«, brummte Caramon. »Garik, während meiner Abwesenheit führst du das Kommando. Ich werde wohl nicht lange fortbleiben. Überzeuge dich davon, daß unsere Gäste gut versorgt werden. Die Bauern sollen auf dem Feld weitertrainieren. Wenn ich zurückkomme, will ich sehen, wie sie diese Strohpuppen aufspießen und nicht einander!«
»Ja, Herr«, sagte Garik und verabschiedete sich von Caramon mit dem Rittergruß.
Die Erinnerung an Sturm Feuerklinge kam Caramon und mit ihr die Zeit seiner Jugend, die Zeit, als er und sein Bruder mit ihren Freunden gereist waren – Tanis, Flint, dem Zwergenschmied, Sturm... Er schüttelte den Kopf und versuchte, diese Erinnerungen zu verbannen. Aber sie kehrten eindringlicher zurück, als er den Pfad zum Wald erreichte und seinen Bruder neben sich reiten sah.
Der Magier hielt wie gewöhnlich sein Pferd mit einem nur geringen Abstand hinter dem Krieger. Er war zwar kein begeisterter, aber dennoch ein guter Reiter, so wie er alle Dinge gut machte, wenn er wollte. Er sprach nicht mit seinem Bruder und sah ihn auch nicht an, hielt seine Kapuze über den Kopf gezogen und war in Gedanken verloren. Auch das war nicht ungewöhnlich – die Zwillinge waren zuweilen tagelang gereist, ohne viel zu reden.
Trotzdem bestand ein Band zwischen ihnen, ein Band des Blutes und der Seele. Caramon ertappte sich, daß er in die alte Kameradschaft zurückglitt. Sein Zorn ließ nach. Er wandte sich halb um. »Es tut mir leid wegen vorhin, Raist«, sagte er, während sie tiefer in den Wald ritten und Crysanias deutlicher Spur folgten. »Es stimmt, was du mir gesagt hast – sie hat mir erzählt, daß sie...« Er verhaspelte sich. »Verdammt, Raist! Warum warst du so grob zu ihr?«
Raistlin hob den Kopf. »Ich mußte grob sein«, sagte er mit seiner sanften Stimme. »Ich mußte ihr den Abgrund zeigen, der vor ihren Füßen klafft, ein Abgrund, der uns alle verschlingen wird, wenn wir hinabstürzen!«
Caramon starrte seinen Bruder zweifelnd an. »Du bist kein Mensch!«
Zu seinem Erstaunen seufzte Raistlin. Die strengen, glitzernden Augen wurden sanft. »Ich bin menschlicher, als du dir vorstellen kannst, mein Bruder«, sagte Raistlin in sehnsüchtigem Ton, der in Caramons Herz traf.
»Dann lieb sie doch, Mann!« sagte Caramon, der neben seinem Bruder ritt. »Vergiß diesen Quatsch von Abgründen! Du bist wohl ein mächtiger Zauberer und sie eine heilige Klerikerin, aber unter euren Roben seid ihr Fleisch und Blut! Nimm sie in deine Arme und...« Er hielt sein Pferd an. Sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung.
Auch Raistlin hielt sein Pferd an. Er beugte sich vor, legte die Hand auf den Arm seines Bruders, und seine glühenden Finger brannten sich in Caramons Haut. Sein Gesichtsausdruck war hart, seine Augen kalt wie Glas. »Hör mir zu, Caramon, und versuche mich zu verstehen«, sagte er in einem ausdruckslosen Ton, der seinen Bruder schaudern ließ. »Ich bin der Liebe unfähig. Ist dir das immer noch nicht klar geworden? O ja, du hast recht – unter diesen Roben bin ich Fleisch und Blut. Wie jeder andere Mann bin ich der Wollust fähig. Das ist alles... Wollust.« Er zuckte die Achseln. »Es würde mir wohl wenig ausmachen, wenn ich mich ihr hingeben würde, vielleicht würde es mich vorübergehend schwächen, weiter nichts. Meine Magie wird es nicht beeinträchtigen. Aber« – sein Blick fuhr durch Caramon wie ein Stück Eis – »es würde Crysania zerstören, wenn sie es herausfindet. Und sie würde es herausfinden!«