»Ich hätte dir schon vor langer Zeit Verstand ›herbeigezaubert‹, wenn ich dazu in der Lage wäre«, erwiderte Raistlin gereizt. »Was soll ich denn deiner Meinung nach tun – soll ich sie aus der Luft erscheinen lassen oder sie in meiner Kristallkugel suchen? Nein, ich werde meine Kraft nicht verschwenden. Außerdem ist es nicht notwendig. Hast du eine Karte? Hast du es geschafft, soweit zu denken?«
»Ich habe eine Karte«, erwiderte Caramon grimmig, zog sie aus seinem Gürtel und gab sie seinem Bruder.
»Du könntest auch den Pferden Wasser geben«, sagte Raistlin und glitt von seinem Tier. Auch Caramon stieg ab und führte die Pferde zum Fluß, während Raistlin die Karte studierte.
Als Caramon die Pferde an einen Busch gebunden hatte und zu seinem Bruder zurückgekehrt war, ging die Sonne unter. Raistlin hielt die Karte dicht an seine Nase und versuchte, in der Abenddämmerung etwas zu erkennen. Er hustete und saß in seinem Reiseumhang zusammengekauert da.
»Du solltest nicht in der Nachtluft sein«, sagte Caramon mürrisch.
Raistlin hustete wieder und warf ihm dann einen verbitterten Blick zu. »Mit mir ist alles in Ordnung.«
Achselzuckend spähte Caramon über die Schulter seines Bruders auf die Karte.
Raistlin zeigte auf einen kleinen Fleck im Gebirge. »Dort«, sagte er.
»Warum sollte sie ausgerechnet einen dermaßen abseits liegenden Ort aufsuchen?« fragte Caramon stirnrunzelnd. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Weil du immer noch nicht ihre Absicht durchschaust!« erwiderte Raistlin. Nachdenklich rollte er die Karte zusammen; seine Augen starrten in das schwindende Licht. Eine dunkle Linie erschien zwischen seinen Augenbrauen.
»Nun?« fragte Caramon. »Was ist diese großartige Absicht, die du ständig erwähnst?«
»Sie hat sich in große Gefahr gebracht«, sagte Raistlin plötzlich, seine kühle Stimme färbte sich mit Zorn.
Caramon starrte ihn beunruhigt an. »Was? Wieso weißt du das? Siehst du...«
»Natürlich kann ich nicht sehen, du Idiot!« fauchte Raistlin über seine Schulter, während er eilig zu seinem Pferd ging. »Ich denke! Ich benutze mein Gehirn! Sie reitet zu diesem Dorf, um die alte Religion wiederherzustellen. Sie reitet dorthin, um ihnen von den wahren Göttern zu erzählen!«
»Im Namen der Hölle!« fluchte Caramon. »Du hast recht, Raist«, sagte er nach einem nachdenklichen Augenblick. »Ich habe sie darüber sprechen hören, wenn ich es mir jetzt so überlege. Aber ich habe das nie ernst genommen.« Als er dann sah, wie sein Bruder sein Pferd losbinden und besteigen wollte, eilte er zu ihm hin. »Warte eine Minute, Raist! Wir können jetzt nichts unternehmen. Wir müssen bis zum Morgen warten.« Er zeigte zum Gebirge. »Du weißt genauso gut wie ich, daß wir auf diesen Pfaden nach Einbruch der Dämmerung nicht reiten können. Die Gefahr ist zu groß, daß die Pferde in ein Loch stolpern und sich ein Bein brechen. Abgesehen davon wissen wir nicht, was in diesen gottverlassenen Wäldern lebt.«
»Ich habe meinen Stab bei mir, der uns leuchten kann«, entgegnete Raistlin und zeigte auf den Stab des Magus, der in einem Lederbehälter am Sattel steckte. Er wollte aufsteigen, aber ein Hustenanfall zwang ihn zum Einhalten.
Caramon wartete, bis der Anfall vorüber war. »Sieh mal, Raist«, sagte er, »ich bin genau wie du um sie besorgt – aber ich glaube, du übertreibst. Laß uns vernünftig sein. Es ist ja nicht so, daß sie in eine Höhle voller Goblins reitet! Dieses magische Licht wird alles anziehen, was draußen in der Nacht lauert, so wie Motten von einer Kerzenflamme angezogen werden. Die Pferde sind müde. Du bist nicht in der Verfassung weiterzureiten, geschweige denn zu kämpfen, falls das nötig werden sollte. Wir suchen uns hier ein Nachtlager. Du kannst dich ausruhen, und morgen früh reiten wir gestärkt weiter.«
Raistlin regte sich nicht. Seine Hände lagen auf dem Sattel, und er starrte seinen Bruder an. »Du hast recht, mein Bruder«, sagte er.
15
Erst als Crysania in das Dorf ritt, stellte sie fest, daß etwas nicht stimmte.
Caramon wäre es natürlich sofort aufgefallen, wenn er vom Gipfel des Berges auf das Dorf hinuntergesehen hätte. Er hätte den fehlenden Rauch der Kaminfeuer bemerkt. Er hätte die unnatürliche Ruhe bemerkt – keine Mütter, die nach ihren Kindern riefen, kein dumpfes Muhen von Vieh, das von den Feldern heimgetrieben wird, keine Nachbarn, die sich nach einem langen Arbeitstag fröhlich begrüßen. Er hätte gesehen, daß kein Rauch von der Schmiede aufstieg, hätte sich nervös gefragt, warum aus den Fenstern kein Kerzenlicht leuchtete. Er hätte beunruhigt die große Anzahl am Himmel kreisender Aasvögel entdeckt...
All dies hätten Caramon oder Tanis, der Halbelf, oder Raistlin oder die anderen bemerkt und hätten sich mit der Hand am Schwert oder mit einem Zauberspruch auf den Lippen dem Dorf genähert.
Als Crysania langsam in das Dorf hineinritt und sich wunderte, wo denn die Bewohner wären, verspürte sie die ersten Anzeichen von Unbehagen. Sie wurde sich der Vögel bewußt, als ihre Schreie in ihre Gedanken eindrangen.
Crysania stieg vor einem Gebäude ab, dessen Schild es als Gasthaus kennzeichnete. Sie band das Pferd an einen Pfahl und ging zum Eingang. Kein Licht drang aus den Fenstern des Hauses. Crysania konnte kaum etwas erkennen, als sie die Tür öffnete. »Hallo?« rief sie zögernd. Bei dem Klang ihrer Stimme kreischten die Vögel auf. »Ist jemand hier? Ich möchte ein Zimmer...«
Aber sie erkannte, daß dieser Ort ohne Zweifel verlassen war. Vielleicht hatten sich alle der Armee angeschlossen. Das wußte sie von ganzen Dörfern. Aber als sie sich umsah, erkannte sie, daß es in diesem Dorf nicht der Fall gewesen war. Denn dann wären nur die Möbel hier geblieben; die Leute hätten ihre sonstigen Habseligkeiten mitgenommen.
Hier war der Tisch für das Abendessen gedeckt...
Sie trat weiter in den Raum hinein, als sich ihre Augen an die Düsterheit gewöhnt hatten. Jetzt konnte sie Gläser erkennen, die noch mit Wein gefüllt waren, die Flaschen standen offen mitten auf dem Tisch. Es gab kein Essen. Einige Teller waren heruntergeworfen und lagen zerbrochen auf dem Boden neben einem angeknabberten Knochen. Zwei Hunde und eine Katze schlichen herum; sie sahen halbverhungert aus.
Eine Treppe verlief nach oben. Crysania dachte daran hinaufzusteigen, aber dann verließ sie der Mut. Sie würde sich erst im Dorf umsehen. Sicher war jemand da, der ihr erklären konnte, was hier vor sich ging.
Sie nahm eine Lampe, zündete sie mit der Zunderbüchse an, die sie in ihrer Tasche hatte, und ging auf die Straße, die jetzt in fast völlige Dunkelheit getaucht war. Was war geschehen? Wo waren alle? Es sah nicht so aus, als ob die Stadt angegriffen worden wäre. Es gab keine Zeichen von Kampf – keine zerbrochenen Möbel, kein Blut, keine herumliegenden Waffen, keine Leichen.
Ihr Pferd wieherte bei ihrem Erscheinen. Sie unterdrückte den heftigen Wunsch, auf das Tier zu springen und so schnell wie möglich fortzureiten. Es war müde und mußte fressen. Als sie daran dachte, band sie es los und führte es zu dem Stall hinter dem Gasthaus. Der Stall war leer. Das war nicht ungewöhnlich – in dieser Zeit waren Pferde ein Luxus. Aber es gab Stroh und Wasser. Zumindest war also das Gasthaus auf Reisende eingestellt. Sie stellte ihre Lampe auf ein Gestell, nahm den Sattel von dem erschöpften Tier und rieb es ab. Als sie ging, kaute es Hafer, den es in einem Trog gefunden hatte.
Crysania nahm ihre Lampe und kehrte auf die leere, stumme Straße zurück. Sie spähte in dunkle Häuser. Nichts. Niemand. Als sie weiterging, hörte sie ein Geräusch. Kurz hörte ihr Herz zu schlagen auf, die Lampe schwankte in ihrer zitternden Hand. Sie blieb stehen, horchte, redete sich ein, daß es ein Vogel oder ein anderes Tier sei.
Nein, da war es wieder. Und noch einmal. Es war ein merkwürdiges Geräusch, wie ein Zischen und dann ein Aufplatschen. Bestimmt war daran nichts Unheimliches oder Bedrohliches.