»Ja«, antwortete Caramon aus der Dunkelheit.
»Caramon«, sagte Raistlin, »erinnerst du dich daran, wie wir Kinder waren? Ich hatte doch diese entsetzlichen Träume...« Er brach ab und hustete.
Von seinem Bruder kam kein Laut.
Raistlin räusperte sich, dann flüsterte er: »Und du hast meinen Schlaf bewacht, mein Bruder. Du hast sie ferngehalten...«
»Ich erinnere mich«, ertönte eine gedämpfte, heisere Stimme.
»Caramon«, begann Raistlin, aber er kam nicht weiter. Der Schmerz und die Müdigkeit waren zu stark. Die Dunkelheit schien ihn einzuhüllen, und der Traum kroch aus seinem Versteck hervor.
Und dann klirrte eine Rüstung. Ein riesiger Schatten tauchte neben ihm auf. Leder quietschte, als Caramon sich zu seinem Bruder setzte, seinen breiten Rücken gegen einen Baumstamm lehnte und sein bloßes Schwert über seine Knie legte. »Schlaf jetzt, Raist«, sagte er sanft. Der Magier spürte eine unbeholfene Hand seine Schulter tätscheln. »Ich halte Wache...«
Raistlin schloß die Augen. Schlaf, süß und erholsam, senkte sich über ihn. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war ein flüchtiges Bild des Traumes, der sich ihm näherte und seine knochigen Hände ausstreckte, um ihn zu packen, aber vom Licht des Schwertes seines Bruders vertrieben wurde.
17
Caramons Pferd bewegte sich unruhig, als er sich im Sattel vorbeugte und auf das Dorf hinabsah. Er warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. Raistlins Gesicht war hinter seiner schwarzen Kapuze verborgen.
Bei Anbruch der Morgendämmerung hatte Regen eingesetzt. Außer den Tropfen, die von den Blättern fielen, gab es keine Geräusche.
Raistlin schüttelte den Kopf. Dann sagte er leise etwas zu seinem Pferd und ritt weiter. Caramon gab seinem Pferd die Sporen, beeilte sich, ihn einzuholen, und zog dabei sein Schwert aus der Scheide.
»Du wirst dein Schwert nicht brauchen, mein Bruder«, sagte Raistlin, ohne sich umzudrehen.
Trotz Raistlins Worten hielt Caramon seine Hand am Schwertknauf, bis sie den Rand des kleinen Dorfes erreicht hatten. Er stieg ab, übergab seinem Bruder die Zügel seines Pferdes und näherte sich vorsichtig der kleinen Wirtsstube, die Crysania aufgesucht hatte. Er spähte hinein und erblickte den gedeckten Tisch, das zerbrochene Geschirr. Ein Hund lief hoffnungsvoll auf ihn zu, leckte seine Hand und winselte. Katzen schlichen unter den Stühlen herum und verschwanden mit schuldbewußter Miene im Schatten. Geistesabwesend streichelte Caramon den Hund und wollte das Wirtshaus betreten, als Raistlin ihm zurief: »Ich habe ein Pferd gehört. Dort drüben.«
Mit gezogenem Schwert ging Caramon um die Ecke des Gebäudes. Kurz darauf kehrte er zurück, seine Waffe hatte er wieder eingesteckt, seine Stirn war gerunzelt. »Es ist ihr Pferd«, berichtete er. »Ungesattelt, gefüttert und getränkt.«
Als hätte Raistlin diese Information erwartet, nickte er.
Caramon sah sich in dem Dorf um. Wasser tropfte von den Dächern, die Tür zum Gasthaus drehte sich in rostigen Angeln und gab einen schrillen Ton von sich. Kein Licht drang aus den Häusern, kein Kinderlachen; keine Frauen waren zu sehen, die sich etwas zuriefen, keine Männer, die sich auf dem Weg zur Arbeit über das Wetter beklagten. »Was ist los, Raist?«
»Pest«, antwortete Raistlin.
Caramon bedeckte sofort Mund und Nase mit seinem Umhang.
Raistlins Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. »Fürchte dich nicht, mein Bruder«, sagte er und stieg vom Pferd.
Caramon nahm die Zügel und band beide Pferde an einem Pfahl fest, dann trat er zu seinem Bruder.
»Wir haben eine Klerikerin bei uns, hast du das vergessen?« fragte Raistlin.
»Wo ist sie denn?« knurrte Caramon mit gedämpfter Stimme, hielt jedoch weiterhin sein Gesicht bedeckt.
Der Magier wandte seinen Kopf und sah die Häuserreihen entlang. »Vermutlich dort«, antwortete er schließlich.
Caramon folgte seinem Blick und sah im Fenster eines winzigen Hauses am anderen Ende des Dorfes ein Licht brennen.
»Ich würde lieber in ein Ogerlager gehen«, murrte Caramon, als er und sein Bruder durch die verlassenen Straßen stapften. Seine Stimme war vor Angst schroff, einer Angst, die er nicht verbergen konnte. Er konnte einem Tod durch kalten Stahl, das sich in seinen Magen bohrte, mit Gleichmut gegenübertreten. Aber der Gedanke, hilflos zu sterben, aufgezehrt von etwas, das man nicht bekämpfen konnte, das unsichtbar in der Luft schwebte, erfüllte den großen Mann mit Entsetzen.
Raistlin erwiderte nichts. Sein Gesicht blieb verborgen.
Sie kamen dem Licht immer näher, als Caramon zufällig nach links sah. »Im Namen der Götter«, flüsterte er, blieb stehen und ergriff seinen Bruder am Arm. Er wies auf das Massengrab.
Keiner sprach. Mit zornigem Krächzen erhoben sich die Aasvögel in die Luft. Caramon würgte. Mit blassem Gesicht drehte er sich eilig um.
Raistlins Augen blieben noch kurz auf diesen Anblick gerichtet. »Komm, mein Bruder«, sagte er dann und ging auf das kleine Haus zu.
Caramon, die Hand am Schwertknauf, warf einen Blick durch das Fenster, dann seufzte er und gab nickend seinem Bruder ein Zeichen. Raistlin stieß leise die Tür auf.
Ein junger Mann lag auf einem zerwühlten Bett. Seine Augen waren geschlossen, seine Hände lagen auf der Brust. Auf seinem stillen, aschgrauen Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens. Eine Klerikerin, in Roben gekleidet, die einst weiß gewesen sein konnten, kniete auf dem Boden neben ihm, den Kopf in ihre gefalteten Hände gebettet.
Caramon wollte etwas sagen, aber Raistlin schüttelte den Kopf.
Crysania war bei ihrem Gott. Ins Gebet vertieft, hatte sie das Eintreten der Zwillinge nicht wahrgenommen, bis schließlich das Klirren von Caramons Rüstung sie wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte. Sie hob den Kopf, ihr dunkles, wirres Haar fiel ihr über die Schultern, und sie musterte beide gleichmütig. Ihr Gesicht, zwar blaß vor Erschöpfung und Kummer, wirkte gefaßt. »Ich habe versagt«, sagte sie.
Raistlin sah kurz zu der Leiche des jungen Mannes hin. »Wollte er nicht glauben?«
»Oh, er hat geglaubt.« Auch sie sah zu dem Leichnam hin. »Aber er hat sich geweigert, sich von mir heilen zu lassen. Sein Zorn war... sehr groß.« Sie erhob sich und zog das Laken über die reglose Gestalt. »Paladin hat ihn zu sich genommen. Jetzt versteht er alles, dessen bin ich mir sicher.«
»Ja«, erwiderte Raistlin. »Und du?«
Crysania senkte den Kopf, ihr dunkles Haar fiel ihr übers Gesicht. Sie stand lange Zeit still da, bis Caramon sich räusperte.
»Raist...«, begann er leise.
»Pst!« flüsterte Raistlin.
Crysania hob den Kopf. Sie hatte Caramon nicht gehört. Ihre Augen waren nun ganz dunkel. »Ich verstehe ebenfalls«, antwortete sie mit fester Stimme. »Zum ersten Mal verstehe ich und weiß, was ich tun muß. In Istar erlebte ich den Glauben an die verlorenen Götter. Paladin hat mein Gebet erhört und mir die tödliche Schwäche des Königspriesters gezeigt – Stolz. Der Gott ließ mich erkennen, wie ich diesen Fehler vermeiden kann... Aber Paladin zeigte mir in Istar auch, wie schwach ich bin. Als ich die Stadt verließ und mit dir hierherkam, war ich nicht mehr als ein verängstigtes Kind, das sich in der entsetzlichen Nacht an dich klammerte. Jetzt habe ich meine Kraft wiedergewonnen.«
Während Crysania sprach, hatte sie sich Raistlin genähert. Seine Augen hielten die ihren fest. Das Medaillon von Paladin glänzte in einem kalten weißen Licht. Ihre Stimme wurde leidenschaftlich. »Dieser Anblick hier wird vor meinen Augen stehen«, sagte sie leise und trat vor den Erzmagier, »wenn ich mit dir durch das Portal gehe, bewaffnet mit meinem Glauben, stark in meiner Überzeugung, daß du und ich gemeinsam die Dunkelheit für immer von der Welt verbannen werden!«
Raistlin ergriff ihre Hände. Sie waren starr vor Kälte. Er umfaßte sie und wärmte sie mit seiner glühenden Berührung.
»Wir brauchen die Zeit nicht zu verändern«, sagte Crysania. »Fistandantilus war ein böser Mensch. Was er tat, tat er zu seinem persönlichen Ruhm. Aber wir nehmen Anteil, du und ich. Das wird ausreichen, um alles zu verändern. Ich weiß es – mein Gott hat zu mir gesprochen!«