Mit erhobenem Kopf streckte Crysania ihre Hand aus, als wollte sie die Dunkelheit wie einen Vorhang teilen. Dann setzte sie ihren Weg zum Fenster fort. Sie hörte unheimliches Geflüster und Gelächter, aber nichts hielt sie auf, nichts berührte sie. Endlich erreichte sie die Fenster.
Sie zog die Vorhänge auseinander und sah hinaus, hoffte, Trost in den Lichtern der Stadt Palanthas zu finden. Draußen sind andere Lebewesen, sagte sie sich, während sie das Gesicht gegen das Glas drückte. Ich werde Lichter sehen...
Aber die Prophezeiung war noch nicht eingetreten. Raistlin, der Herr über Vergangenheit und Gegenwart, war noch nicht zurückgekehrt, um den Turm zu beanspruchen, so wie es in der Zukunft geschehen würde. Und so blieb der Turm in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt. Falls die Lichter in der wunderschönen Stadt Palanthas brannten, dann konnte sie es nicht sehen.
In ihrer Trostlosigkeit aufseufzend, ergriff Crysania den Stoff und zog an ihm. Das morsche Gewebe gab fast unverzüglich nach und begrub sie wie unter einem Leichentuch aus Samtbrokat, als die Vorhänge herunterfielen. Dankbar wickelte sie den schweren Stoff um ihre Schultern und genoß seine Wärme.
Sie riß einen weiteren Vorhang herunter und trug ihn durch den dunklen Raum. Das magische Licht des Stabs führte sie durch die Dunkelheit. Sie deckte Caramon mit dem schweren Stoff bis über seine breiten Schultern zu. Seine Brust hob sich nicht, er atmete kaum. Sie legte die Hand an seinen Hals und fühlte seinen Puls. Er war langsam und unregelmäßig. Und dann sah sie an seinem Hals Male – wie von fleischlosen Lippen.
Vor ihrem geistigen Auge erschien der körperlose Kopf. Schaudernd verbannte sie ihn aus ihren Gedanken und legte die Hände auf Caramons Stirn. »Paladin«, betete sie leise, »wenn du dich nicht im Zorn von deiner Klerikerin abgewendet hast – heile diesen Mann! Wenn sich sein Schicksal noch nicht erfüllt hat, wenn es noch etwas gibt, was er tun muß, gewähre ihm Gesundheit. Wenn nicht, dann nimm seine Seele behutsam in deine Arme, Paladin, auf daß er ewig leben kann...«
Crysania konnte nicht weiterbeten. Ihre Kraft verließ sie. Erschöpft und verloren in der unermeßlichen Dunkelheit, ließ sie den Kopf sinken und begann bitterlich zu weinen wie jemand, der keine Hoffnung mehr sieht.
Doch dann berührte eine Hand sie. Sie schreckte verängstigt auf, aber diese Hand war stark und warm. »Nun, nun, Tika« murmelte eine tiefe, verschlafene Stimme. »Es wird alles wieder gut. Weine nicht.«
Crysania hob ihr tränennasses Gesicht und sah Caramons Brust sich in tiefen Atemzügen heben und senken. Sein Gesicht hatte die Leichenblässe verloren, die Male an seinem Hals gingen zurück. Beruhigend ihre Hand tätschelnd, lächelte er. »Es ist nur ein böser Traum, Tika«, murmelte er. »Wird vorbei sein... morgen...«
Den Vorhang um sich ziehend, gähnte Caramon laut auf und wälzte sich auf die andere Seite, um in einen tiefen, friedlichen Schlaf zu gleiten.
Zu müde und zu abgestumpft, um ihrem Gott zu danken, konnte Crysania nur dasitzen und dem großen Mann zusehen. Dann vernahm sie ein Geräusch – das Geräusch von tropfendem Wasser. Als sie sich umwandte, sah sie einen Glaskrug am Rand des Schreibtisches stehen. Der Krug lag auf einer Seite, seine Öffnung ragte über den Rand des Tisches. Er war offensichtlich seit langer Zeit leer. Aber jetzt glitzerte er von einer klaren Flüssigkeit, die auf den Boden tropfte, und jeder Tropfen funkelte im Licht des Stabes.
Crysania streckte die Hand aus und fing einige Tropfen in der Handfläche auf, dann hob sie sie zögernd an ihre Lippen. »Wasser!« stieß sie hervor.
Der Geschmack war leicht bitter, fast salzig, aber es war das köstlichste Wasser, das sie je getrunken hatte. Sie ließ mehr Wasser in ihre Hand tropfen und schluckte es durstig. Sie stellte den Krug wieder aufrecht auf den Schreibtisch und sah, wie der Wasserpegel anstieg und die Menge ersetzte, die sie getrunken hatte.
Jetzt konnte sie Paladin mit Worten danken, die aus den Tiefen ihres Seins kamen, so tief, daß sie sie nicht aussprechen konnte. Ihre Furcht vor der Dunkelheit und den Kreaturen war verflogen. Ihr Gott hatte sie nicht verlassen – er war immer noch bei ihr, auch wenn sie ihn vielleicht enttäuscht hatte.
Von ihrer Angst erlöst, warf sie einen letzten Blick auf Caramon. Als sie ihn friedlich schlafen sah, wandte sie sich von ihm ab und ging zu seinem Bruder, der in seinen Roben dalag.
Sie legte sich neben den Magier, wußte, daß die Wärme ihres Körpers für beide ausreichend war, deckte sich und ihn mit dem Vorhang zu und lehnte ihren Kopf an Raistlins Schulter. Dann schloß sie die Augen und ließ sich von der Dunkelheit umhüllen.
3
»Die Frau nannte ihn Raistlin.«
»Aber dann Fistandantilus.«
»Wie können wir sicher sein? Er ist nicht durch den Eichenwald gegangen, wie vorhergesagt wurde. Er ist nicht mit Macht gekommen. Und die anderen? Er sollte allein kommen.«
»Aber spür doch seine Magie! Ich wage nicht, ihm die Stirn zu bieten...«
»Nicht einmal bei dieser reichen Belohung?«
»Der Blutgeruch hat dich in den Wahnsinn getrieben! Wenn er es nun wirklich ist, und er findet heraus, daß du dich an seinen Erwählten geweidet hast, wird er dich in die ewige Dunkelheit zurückschicken, wo du immer von warmem Blut träumen, es aber niemals wieder kosten wirst.«
»Und wenn wir versagen in unserer Pflicht, diesen Ort zu bewachen, dann wird sie in ihrem Zorn kommen und uns dieses Schicksal angenehm erscheinen lassen.«
Schweigen. Dann: »Es gibt einen Weg, uns zu überzeugen...«
»Das ist gefährlich. Er ist geschwächt, wir könnten ihn töten.«
»Wir müssen es aber wissen. Soll er doch lieber sterben, als daß wir in unserer Pflicht gegenüber Ihrer Dunklen Majestät versagen!«
»Ja... Sein Tod könnte erklärt werden. Sein Leben vielleicht nicht.«
Ein kalter Schmerz bohrte sich wie Eissplitter in die Schichten seines Unbewußten, stach in sein Gehirn. Raistlin wand sich in seinem Griff, kämpfte durch den Nebel der Krankheit und Erschöpfung, um das Bewußtsein wiederzuerlangen. Er schlug die Augen auf. Furcht erstickte ihn fast, als er zwei blasse Köpfe über sich schweben sah, die ihn mit Augen unermeßlicher Dunkelheit anstarrten. Ihre Hände lagen auf seiner Brust – es war die Berührung eisiger Finger.
Als er in diese Augen sah, wußte der Magier, was sie suchten, und er wurde von plötzlichem Entsetzen ergriffen. »Nein«, sagte er atemlos. »Ich will das nicht noch einmal erleben.«
»Du wirst es. Wir müssen es wissen!« war ihre Antwort.
Wut über diese Ungeheuerlichkeit erfaßte Raistlin. Einen Fluch knurrend, versuchte er sich loszureißen. Aber es war sinnlos. Seine Muskeln verweigerten den Gehorsam, ein Finger zuckte, weiter nichts.
Zorn, Schmerz und bittere Enttäuschung ließen ihn aufschreien, aber es war ein Ton, den niemand hörte – nicht einmal er selbst. Die eisigen Hände festigten ihren Griff, der Schmerz bohrte sich in ihn, und er versank – nicht in Dunkelkeit, sondern in Erinnerungen.
Das Studierzimmer, in dem die sieben Zauberlehrlinge an jenem Morgen arbeiteten, war fensterlos. Hier fand kein Sonnenlicht und auch nicht das Licht der zwei Monde – des silbernen und des roten Mondes – Einlaß. Was den dritten Mond betraf, den schwarzen Mond, so konnte seine Gegenwart hier wie auch sonst auf Krynn gespürt werden, ohne daß man ihn sah.
Der Raum wurde von dicken Bienenwachskerzen erleuchtet, die in silbernen Kerzenhaltern auf den Tischen standen.
Es war der einzige Raum im großen Schloß von Fistandantilus, der von Kerzen erleuchtet wurde. In allen anderen Räumen schwebten Glaskugeln in der Luft, deren magische Strahlung die Dunkelheit erhellte, die in dieser Festung ewig währte.
Sechs Lehrlinge saßen an einem Tisch, einige unterhielten sich, andere studierten schweigend. Der siebte saß abseits an einem Tisch am anderen Ende des Zimmers. Gelegentlich hob einer der Sechs den Kopf und warf dem abseits Sitzenden einen nervösen Blick zu, senkte dann aber schnell den Kopf, denn es spielte keine Rolle, wer zu ihm sah oder wann, der siebte schien immer zurückzusehen.