Der siebte amüsierte sich darüber und gab sich einem bitteren Lächeln hin. Es war keine leichte Zeit für Raistlin. Oh, es war einfach genug, die Täuschung aufrechtzuerhalten, Fistandantilus daran zu hindern, daß er seine wahre Identität vermutete, seine wahren Kräfte zu verbergen, einen der Narren zu spielen, die daran arbeiteten, die Gunst des großen Zauberers zu erwerben und sein Lehrling zu werden.
Täuschung war Raistlins Vergnügen. Er genoß sogar die kleinen Spiele der Kunst, den anderen immer um eine Nasenlänge voraus zu sein, alles ein wenig besser zu machen, sie immer zu überraschen. Auch genoß er sein Spiel mit Fistandantilus. Er konnte spüren, wie der Erzmagier ihn beobachtete. Er wußte, was der große Zauberer dachte: Wer ist dieser Lehrling? Woher hat er die Kraft, die er, der Erzmagier, in dem jungen Mann spüren, aber nicht beschreiben konnte?
Manchmal glaubte Raistlin Fistandantilus dabei zu ertappen, wie er sein Gesicht musterte, als ob es ihm vertraut vorkäme...
Nein, Raistlin genoß das Spiel. Aber unerwartet war er auf etwas gestoßen, was er nicht genießen konnte, was er die unglücklichste Zeit seines Lebens nannte – seine alte Schulzeit.
»Der Verschlagene«, das war sein Spitzname bei den Lehrlingen in der Schule seines alten Meisters gewesen. Niemals beliebt, niemals ins Vertrauen gezogen, sogar von seinem eigenen Meister gefürchtet, verbrachte Raistlin eine einsame, verbitterte Jugend. Die einzige Person, die sich je um ihn gekümmert hatte, war sein Zwillingsbruder Caramon gewesen.
Obgleich er seine Kameraden verabscheute, die danach trachteten, einem Meister zu gefallen, der den Auserwählten am Ende lediglich umbringen würde, obgleich er es genoß, sie zu narren und zu verspotten, verspürte Raistlin jetzt manchmal einen stechenden Schmerz in den einsamen Nächten, wenn er sie hörte, wie sie gemeinsam lachten...
Wütend erinnerte er sich daran, daß all dies nicht seine Sache war. Er hatte ein größeres Ziel vor Augen. Er mußte sich konzentrieren, mit seiner Kraft haushalten. Denn heute war der Tag, an dem Fistandantilus seinen Lehrling auswählen würde.
Ihr sechs werdet gehen, dachte Raistlin. Ich werdet gehen und mich hassen und verachten, und keiner von euch wird jemals erfahren, daß einer von euch mir sein Leben verdankt!
Die Tür zum Studierzimmer öffnete sich knirschend, jagte einen Ruck durch die sechs schwarzgekleideten Gestalten, die an dem Tisch saßen. Raistlin, der sie mit einem verzerrten Lächeln betrachtete, sah das gleiche höhnische Lächeln im verhutzelten grauen Gesicht des Mannes, der in der Türöffnung stand.
Die glitzernden Augen des Zauberers glitten zu jedem einzelnen der Sechs, ließen jeden erblassen und den Kopf neigen, während die Hände mit Zauberzutaten spielten oder sich nervös zusammenballten.
Schließlich richtete Fistandantilus seine schwarzen Augen auf den siebten Lehrling, der abseits saß. Raistlin begegnete seinem Blick gelassen, sein verzerrtes Lächeln verstärkte sich noch – in Spott. Fistandantilus zog seine Augenbrauen zusammen. Jähzornig schlug er die Tür zu. Die sechs Lehrlinge schraken bei dem Knall, der die Stille zerriß, zusammen.
Der Zauberer kam mit langsamen Schritten näher. Seine alten Knochen knirschten, als er sich auf einem Stuhl niederließ. Der Blick des Zauberers fuhr noch einmal zu den sechs Lehrlingen, die vor ihm saßen, und als er sie musterte, hob sich eine von Fistandantilus’ verwelkten Händen, um einen Anhänger zu streicheln, den er an einer langen, schweren Kette um seinen Hals trug. Es war ein merkwürdiger Anhänger – ein ovaler Blutstein, in schlichtes Silber eingefaßt.
Die Lehrlinge hatten häufig über diesen Anhänger und seine Funktion diskutiert. Es war der einzige Schmuck, den Fistandantilus trug, und alle wußten, daß er sehr kostbar sein mußte. Selbst der niedrigste Lehrling konnte die mächtigen Schutz- und Abwehrzauber spüren, die auf ihm lagen und ihn vor jeder anderen Form der Magie bewachten. Welche Funktion hatte er? Ihre Spekulationen reichten von dem Herbeirufen von Wesen himmlischer Ebenen bis hin zum Umgang mit Ihrer Dunklen Majestät.
Einer von ihnen hätte es ihnen natürlich sagen können. Raistlin wußte um seine Funktion. Aber er behielt sein Wissen für sich.
Fistandantilus’ zittrige Hand schloß sich um den Blutstein, während sein hungriger Blick von einem Lehrling zum nächsten glitt. Raistlin hätte schwören können, daß der Zauberer seine Lippen leckte, und der junge Magier verspürte eine plötzliche Angst. Was ist, wenn ich versage? fragte er sich schaudernd. Er ist mächtig! Der mächtigste Zauberer, der je gelebt hat! Bin ich stark genug? Was ist...
»Ich beginne mit der Prüfung«, sagte Fistandantilus mit einer überschnappenden Stimme, sein Blick ging zum ersten der Sechs.
Standhaft verbannte Raistlin seine Befürchtungen. Wenn er versagte, würde er sterben. Er hatte schon zuvor dem Tod ins Gesicht gesehen. In der Tat wäre es wie ein Treffen mit einem alten Freund...
Hintereinander erhoben sich die jungen Magier von ihren Plätzen, öffneten ihre Zauberbücher und trugen ihre Zaubersprüche vor. Wenn der Zauber »Magie bannen« nicht über dem Studierzimmer gelegen hätte, würden jetzt Feuerkugeln innerhalb seiner Wände explodieren und alles in ihrer Reichweite verbrennen, Phantomdrachen würden illusorisches Feuer ausatmen, furchterregende Wesen würden kreischend von anderen Existenzebenen kommen. Aber so wie die Dinge lagen, blieb das Zimmer in kerzenerleuchteter Ruhe, mit Ausnahme des Singsangs der Prüflinge und des Raschelns der Seiten in den Zauberbüchern.
Jeder Magier beendete seine Vorführung und nahm seinen Platz wieder ein. Alle waren bemerkenswert geübt. Das war auch nicht überraschend. Fistandantilus ließ nur sieben der geschicktesten, jungen, männlichen Zauberkundigen zu, die bereits die fürchterliche Prüfung im Turm der Erzmagier bestanden hatten, um ihre Studien bei ihm fortzusetzen. Aus dieser Anzahl suchte er sich dann einen Assistenten aus.
So vermuteten sie.
Die Hand des Erzmagiers berührte den Blutstein. Sein Blick ging zu Raistlin. »Du bist an der Reihe, Magier«, sagte er. In den alten Augen flackerte es auf. Die Falten an der Stirn des Zauberers vertieften sich leicht, als ob er versuchte, sich an das Gesicht des jungen Mannes zu erinnern.
Langsam erhob sich Raistlin, immer noch mit dem bitteren, zynischen Lächeln, als ob dies alles unter seiner Würde wäre. Mit einem lässigen Achselzucken schlug er sein Zauberbuch zu. Die anderen sechs Lehrlingen tauschten verbitterte Blicke aus. Fistandantilus runzelte die Stirn, aber seine dunklen Augen funkelten.
Gewandt und spöttisch begann Raistlin den komplizierten Zauber aus dem Gedächtnis aufzusagen. Die anderen Lehrlinge wanden sich bei dieser Darstellung seines Könnens, funkelten ihn voll Haß und offenem Neid an. Fistandantilus beobachtete ihn, sein finsterer Blick wurde so bösartig, daß Raistlins Konzentration fast beeinträchtigt wurde.
Der junge Magier zwang sich, sich nicht ablenken zu lassen, und beendete seinen Spruch, und plötzlich wurde das Studierzimmer von dem strahlenden Blitz eines vielfarbenen Lichtes erleuchtet, die Stille wurde von einer Explosion durchbrochen.
Fistandantilus schrak zusammen, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Wie hast du den Zauber ›Magie bannen‹ gebrochen?« verlangte Fistandantilus wütend zu wissen. »Welche seltsame Macht ist das?«
Als Antwort öffnete Raistlin seine Hände. Auf ihren Flächen hielt er eine blaue und grüne Flammenkugel, die in solcher Helligkeit erstrahlten, daß niemand sie ansehen konnte. Mit dem gleichen höhnischen Lächeln klatschte er in die Hände. Die Flamme verschwand.
Das Studierzimmer war wieder von Ruhe erfüllt, nur war es die Ruhe der Angst, als sich Fistandantilus erhob. Sein Zorn schimmerte um ihn wie ein Flammenring, als er sich dem siebten Lehrling näherte.