Raistlin bekam eine Gänsehaut bei der Berührung, und einen Augenblick wäre er am liebsten geflohen. Nein, sagte er sich kalt, ballte die Hände und grub seine Nägel in sein Fleisch, damit der Schmerz ihn von seiner Angst ablenke. Ich muß die Worte hören!
Er zwang sich, liegen zu bleiben, aber er konnte sich nicht enthalten, die Augen zu schließen, um den Anblick des bösartigen, verhutzelten Gesichtes auszulöschen, das so dicht an seinem war, daß er den fauligen Atem riechen konnte...
»Das ist gut«, sagte eine sanfte Stimme, »entspann dich...« Fistandantilus stimmte einen Gesang an. Sich auf den Zauber konzentrierend, schloß er die Augen und wiegte sich hin und her, während er den Blutsteinanhänger in Raistlins Fleisch drückte. Er bemerkte nicht, daß seine Worte von seinem Opfer wiederholt wurden. Als er schließlich erkannte, daß etwas nicht stimmte, hatte er den Zauberspruch beendet und sich erhoben, um auf die erste Infusion neuen Lebens zu warten, die seine uralten Knochen wärmen sollte.
Nichts geschah.
Beunruhigt schlug Fistandantilus die Augen auf. Er starrte verblüfft auf den schwarzgekleideten jungen Magier, der auf der kalten Steinplatte lag, und taumelte in einer plötzlichen Furcht zurück, die er nicht verbergen konnte.
»Ich sehe, du erkennst mich doch wieder«, sagte Raistlin und richtete sich auf. Eine Hand ruhte auf der Steinplatte, aber die andere war in einer der Geheimtaschen seiner Roben. »So viel zu dem Körper, der in der Zukunft auf dich wartet.«
Fistandantilus antwortete nicht. Sein Blick glitt zu Raistlins Tasche. Schnell gewann er jedoch die Beherrschung wieder. »Hat der große Par-Salian dich hierhergeschickt, kleiner Magier?« fragte er spöttisch. Aber sein Blick verweilte auf der Tasche.
Raistlin schüttelte den Kopf, während er von der Steinplatte glitt. Die eine Hand immer noch in seiner Tasche, bewegte er die andere, um die schwarze Kapuze zurückzuziehen, und erlaubte Fistandantilus so, sein wahres Gesicht zu sehen und nicht die Illusion, die er in den vergangenen Monaten aufrechterhalten hatte. »Ich bin aus eigenem Antrieb hier. Ich bin jetzt der Herr des Turmes.«
»Das ist unmöglich«, knurrte der Zauberer.
Raistlin lächelte. »Das hast du gedacht. Aber du hast einen Fehler begangen. Du hast mich unterschätzt. Du hast mich vor dem Dunkelelf während der Prüfung beschützt, und als Gegenleistung hast du mir einen Teil meiner Lebenskraft entrissen. Du hast mich zu einem Leben ständigen Schmerzes in einem zerstörten Körper gezwungen, mich zur Abhängigkeit von meinem Bruder verurteilt. Du hast mich die Anwendung der Kugel der Drachen gelehrt und mich am Leben gehalten, sonst wäre ich in der Großen Bibliothek von Palanthas gestorben. Im Krieg der Lanze hast du mir geholfen, die Königin der Finsternis zurück in die Hölle zu treiben, wo sie keine Bedrohung für die Welt mehr darstellte – und für dich. Als du dann in dieser Zeit genügend Kraft gewonnen hattest, war deine Absicht, in die Zukunft zurückzukehren und meinen Körper zu beanspruchen! Du wärst ich geworden.«
Raistlin sah, wie sich Fistandantilus’ Augen verengten. Aber der Zauberer sagte lediglich sanft: »Das ist alles richtig. Was ist jetzt deine Absicht? Mich umzubringen?«
»Nein«, erwiderte Raistlin sanft. »Ich beabsichtige, du zu werden!«
»Narr!« Fistandantilus lachte schrill auf. Er hob seine schrumschrumpelige Hand und hielt den Blutsteinanhänger hoch. »Die einzige Möglichkeit ist, diesen Stein bei mir anzuwenden. Und er ist durch kraftvolle Zauber gegen alle Formen der Magie geschützt, von denen du dir keine Vorstellung machen kannst, kleiner Magier...«
Seine Stimme erstarb zu einem Wispern in Angst und Entsetzen, als Raistlin die Hand aus seinen Roben zog. In seiner Hand lag der Blutsteinanhänger. »Geschützt gegen alle Formen der Magie«, wiederholte er, und sein Grinsen war das eines Totenschädels, »aber nicht geschützt vor Taschenspielertricks.«
Der Zauberer wurde leichenblaß. Seine Augen glitten fieberhaft zu der Kette um seinen Hals. Da jetzt die Illusion aufgedeckt war, erkannte er, daß er nichts in der Hand hielt.
Ein berstendes, krachendes Geräusch zerriß die Stille. Der Steinboden unter Raistlins Füßen hob sich, ließ den jungen Magier auf seine Knie fallen. Die Grundmauern des Laboratoriums zerbrachen. Über dem Chaos erhob sich Fistandantilus’ Stimme in dem kraftvollen Zauber »Monster herbeirufen«.
Raistlin, der den Zauber erkannte, reagierte darauf, indem er den Blutstein in seiner Hand umklammerte und einen Schildzauber um seinen Körper beschwor, um Zeit zu gewinnen. Er sah eine Gestalt durch die Grundmauern hervorplatzen; Form und Gesicht waren so entsetzlich, wie man sie nur in den schlimmsten Alpträumen sah.
»Ergreife ihn, pack ihn!« kreischte Fistandantilus und zeigte auf Raistlin. Das Monster drang über den zerbröckelnden Boden auf den jungen Magier zu und griff nach ihm.
Furcht überwältigte Raistlin, als die Kreatur aus dem Jenseits seine eigene schreckliche Magie gegen ihn anwendete. Der Schildzauber zerfiel unter dem Angriff. Das Monster würde seine Seele verschlingen und sich an seinem Fleisch weiden.
Beherrschung! Lange Stunden des Studiums, erprobte Stärke und strenge Selbstdiziplin legten die erforderlichen Worte des Zaubers in Raistlins Geist. Innerhalb kurzer Zeit war er bereit. Als der junge Magier die Worte des Bannes sang, fühlte er die Ekstase der Magie durch seinen Körper strömen und ihn von der Furcht erlösen.
Das Monster zögerte.
Fistandantilus befahl ihm zornentbrannt, Raistlin anzugreifen.
Raistlin befahl ihm Einhalt.
Das Monster funkelte beide an. Beide Magier hielten es in Schach, beobachteten einander aufmerksam, warteten, daß ein Auge blinzelte, eine Lippe zuckte, sich ein Finger krampfhaft rührte, was sich als fatal erweisen würde.
Keiner bewegte sich, und es sah auch nicht danach aus, daß sich einer bewegen würde. Raistlins Ausdauer war stärker, aber Fistandantilus’ Magie rührte aus uralten Quellen; er konnte unsichtbare Kräfte zu seiner Unterstützung aufrufen.
Schließlich war es das Monster, das nicht länger warten konnte. Gefangen zwischen zwei gleichwertigen, in Konflikt stehenden Kräften, in entgegengesetzte Richtungen hin- und hergezogen, konnte es sein magisches Sein nicht länger zusammenhalten. Mit einem strahlenden Blitz explodierte es.
Die Wucht schleuderte beide Magier nach hinten gegen die Wände. Ein entsetzlicher Geruch erfüllte die Kammer, und zerbrochenes Glas fiel wie Regen herab. Die Wände des Laboratoriums waren geschwärzt. Hier und dort brannten kleine Feuer in vielfarbenen Flammen, warfen ein gespenstisches Licht auf den Schauplatz der Zerstörung.
Raistlin rappelte sich schnell hoch und wischte Blut von einer Schnittwunde an seiner Stirn. Sein Feind war nicht weniger schnell, beide wußten, daß Schwäche den Tod bedeutete. Die zwei Magier standen sich im flackernden Licht gegenüber.
»So weit ist es also gekommen«, sagte Fistandantilus mit seiner zersprungenen, uralten Stimme. »Du hättest weitermachen, ein einfaches Leben führen können. Ich hätte dich vor den Schwächen, den Erniedrigungen des Alters bewahrt. Warum beschleunigst du deine eigene Zerstörung?«
»Du weißt es«, erwiderte Raistlin leise; sein Atem ging schwer, seine Kräfte waren fast verbraucht.
Fistandantilus nickte langsam, seine Augen blieben auf Raistlin gerichtet. »Wie ich schon sagte«, murmelte er leise, »es ist eine Schande, daß dies eintreten muß. Wir hätten vieles gemeinsam tun können, du und ich. Jetzt...«
»Einer wird leben, und der andere wird sterben«, unterbrach Raistlin. Er streckte seine Hand aus und legte den Blutsteinanhänger auf die kalte Platte. Dann hörte er die Zauberworte und hob seine Stimme, um den Zauber zu beantworten.
Die Schlacht währte lange. Die zwei Wächter des Turms, die ihren Verlauf beobachteten, den sie aus den Erinnerungen des schwarzgekleideten, in ihrer Gewalt befindlichen Magiers heraufbeschworen hatten, waren in Verwirrung verloren. Bis zu diesem Punkt hatten sie alles durch Raistlins Augen gesehen. Aber jetzt waren sich die zwei Zauberkundigen so nah, daß die Wächter des Turms die Schlacht durch die Augen beider Gegner sahen.