Ingrimmsch runzelte die Stirn. »Du bist demnach die Aufsicht, nicht der Urheber.«
»Dennoch kenne ich mich aus.« Er streifte die Ärmel der Robe bis zu den Händen herab, damit die Vorrichtung besser verborgen wurde, mit der er den Anschein erweckte, er könne Flammen aus seinen Händen schießen. Die Menschen und Zwerge, die beobachtet hatten, wie er Romo verbrannt hatte, hatten sich zumindest täuschen lassen und hielten ihn wirklich für einen Famulus.
»Immer noch der Taschenspielermagier«, grinste Boëndal. »Betrug und Gaukelei.«
»Aber es wirkt«, beharrte Rodario verschnupft. »Die Frauen werden sich um mich reißen. Angesehener Theaterbetreiber, aufstrebender Famulus und ausgezeichneter Schauspieler in einer umwerfend gut aussehenden Persönlichkeit vereint.«
Boïndil gluckste erheitert. »Ja, und ihre Ehemänner werden dich zerreißen.«
»Los«, gab Tungdil den Befehl, musste aber gegen seinen Willen lächeln. »Für Unfug ist keine Zeit.«
»Unfug? Meine herrlichen...« Er verstummte und führte sie durch die verwinkelten Gänge des Palasts.
Porista kam in dieser Nacht nicht zur Ruhe. Zwerge, Menschen und Elben suchten die Stadt ab, durchstreiften die Ruinen und prüften jedes leer stehende Haus, aber von Salfalur gab es keine Spur.
Mit ihm verschwanden die Aufzeichnungen der Chirurga über die Städte der Freien. Das geheime Leben unter dem Geborgenen Land war den Dritten nun in allen Einzelheiten enthüllt.
Das Geborgene Land, Gauragar,
in der Hauptstadt des ehemaligen
Zauberreiches Lios Nudin, Porista,
6234. Sonnenzyklus, Spätherbst
Tungdil saß neben Myrs Bett, als die zierliche Zwergin aus ihrem Heilschlaf aufschreckte. Sie benötigte etwas Zeit, um sich zu erinnern, was geschehen war. »Habt ihr ihn aufhalten können?«, fragte sie mühsam.
Tungdil schüttelte den Kopf. »Nein. Er war wie vom Erdboden verschluckt.«
»Wir müssen Gemmil und die Freien warnen. Die Dritten wissen nun einiges über meine Heimat.« Sie schaute zur Decke und schlug mit der Hand gegen die Wand. »Hätte ich die Bücher doch nur zu Hause gelassen. Mein Geiz ist das Verhängnis meiner Freunde.«
»Wieso hattest du sie überhaupt mitgenommen?«
»Papier ist nicht billig, und ich wollte die leeren Seiten nutzen. Es sollten Aufzeichnungen hinein von allem, was ich unterwegs sehen und erleben würde. Ich bin eine Gelehrte und somit das Auge und Ohr von Goldhort. Nichts von dem, was gesagt wird, darf vergessen werden.« Sie strich vorsichtig über die Stelle, an der ihre Stirn mit der Wand zusammengeprallt war. »Und wie ein Krieger niemals ohne Waffe reist, würde ich als Gelehrte niemals meine Bücher daheim lassen.«
Er streichelte ihre glatte Wange, wodurch sie erst spürte, dass es weder Schmerzen noch Narben gab. Ungläubig berührte sie ihr Gesicht.
»Du suchst den Schnitt? Narmora ist eine Maga«, erklärte er ihr lächelnd. »Sie hat auch meine gebrochenen Rippen geheilt.«
»Magie?« Myr horchte in sich hinein, als ob sie so etwas wie eine Stimme, ein Echo oder einen anderen Hinweis auf das Wirken der Maga hören könnte. »Ich kenne solche Kräfte nur aus Berichten und Erzählungen«, erklärte sie beinahe verlegen. »Ich dachte, dass man es fühlen könne, aber da ist nichts.«
»Ich weiß. Es ist unheimlich«, grinste er. »Es liegt nicht in unserem Wesen, sie zu mögen.«
Er freute sich, Myr so wohlauf zu sehen. Für ihn gab es keinen Zweifel an seiner Entscheidung, mit ihr den Bund eingegangen zu sein. Auch die noch immer lebendigen Gefühle für Balyndis änderten nichts an der ehrlichen Zuneigung, die er für die Chirurga hegte. Die Seelenverwandtschaft zweier Gelehrter machte aus ihnen das vollkommene Paar, und wenn es ihm gelänge, ihr noch das Schmieden beizubringen, gäbe es gar nichts mehr auszusetzen.
Bis auf den Makel, dass du eigentlich Balyndis liebst, erinnerte ihn sein eigener Dämon arglistig.
Sieh her, antwortete er ihm, beugte sich zu der Zwergin und gab ihr einen Kuss.
Mich täuschst du nicht, lachte der Dämon. Nur dich.
Myr lächelte ihn unsicher an. »Sie waren zu stark für mich, Tungdil. Sie warteten in meinem Zimmer, als ich vom Spaziergang zurückkam, und durchwühlten meine Taschen. Als ich hineinging, schlug mich Romo... er heißt doch Romo? Der kleinere von den beiden schlug mich nieder und nahm mich mit.
Unterwegs wurde ich wach, und er drohte mich umzubringen, falls ich es wagte, um Hilfe zu rufen. Du hast uns entdeckt.«
»Und du hast mir das Leben gerettet«, entgegnete er. »Einmal mehr. Ich weiß nicht, ob ich die Verletzungen der Albaepfeile damals, als wir uns das erste Mal begegneten, ohne deine Künste überstanden hätte. Sobald du dich stark genug fühlst, brechen wir auf«, beschied er. »Vorher habe ich die Zwergenherrscher noch zu einer Unterredung gebeten. Du kannst dir mit dem Genesen also Zeit nehmen.«
»Aus welchem Grund bittest du sie zusammen?« erkundigte sie sich erstaunt und richtete sich auf ihrer Lagerstätte auf. Sogleich schwankte sie und sank gegen ihn. »Schwindel. Es sind die Nachwirkungen des Sturzes. Oder des Schlags.«
Er hielt sie fest. »Du wirst mich sicher gleich kobolddumm nennen, aber ich halte es für eine raffinierte Hinterlist.«
»Was denn für eine Hinterlist?«, sagte sie fast schon erschrocken.
»Der Dritten. Ich denke, dass sie nichts von den Avataren wissen«, eröffnete er ihr seinen Verdacht. »Sie nutzen unsere Angst, um ihren größten Sieg zu feiern und mehr von uns zu töten, als es ihnen ein Krieg je ermöglichen würde. Ich schätze, dass die Hälfte von uns bei dem Marsch durch die Berge abseits der Wege, welchen sie von uns fordern, ums Leben kommen wird. Kälte, unsichere Pfade, Geröll- und Schneelawinen erwarten uns.«
»Und Hunger«, ergänzte sie traurig.
»Ihre Forderungen sind brutal und einzig auf den Tod Unschuldiger ausgerichtet. Und wir wollen sie erfüllen, weil wir fest davon ausgehen, dass sie die Einzigen sind, welche über ein Mittel gegen die Avatare verfügen.« Er blickte in ihre roten Augen. »Aber Romo hat gelogen, und das kann ich beweisen. Er hat die Könige auf Geheiß seines Oheims an der Nase herumgeführt. Vor lauter Furcht hat niemand bemerkt, dass Romo beim ersten Gespräch lediglich von einer Gefahr aus dem Westen sprach und nicht von den Avataren, wie mir Boëndal sagte.«
»Dein Einwand würde mich nicht überzeugen, wenn ich ein Zwergenherrscher wäre. Romo kann es auch einfach vergessen haben...«
»Mag sein. Aber warum haben die Avatare den falschen Djerůn gegen Andôkai gesandt, wenn es die Dritten sind, die eine Waffe besitzen, welche sie aufhalten oder vernichten kann?«, setzte er nach und lächelte siegesgewiss. »Auch in dieser Hinsicht schwankte seine Aussage; mal sprach er von aufhalten, mal von vernichten.«
»Ist das bei einem Krieger wie ihm nicht dasselbe? Jedenfalls hatte es auf mich ganz den Anschein.«
»Aber es geht noch weiter mit meiner Beweisführung. Es war Unsinn zu behaupten, er könne uns nicht sagen, was für eine Waffe das sei.«
»Vielleicht ist sie so einfach herzustellen, dass sie Angst haben, wir könnten selbst darauf kommen und ihren Plan zunichte machen? Oder er wollte es aus reiner Willkür nicht preisgeben.«
»Nein. Nicht einmal einen Hauch einer Andeutung hat er gemacht - keine Auskunft darüber, ob es eine Waffe ist oder ein Gegenstand, ob man eine Schleuder benötigt oder ob es Runen sind, die auf das Tor im Westen gemalt werden müssen«, beharrte Tungdil, der sich von Myr nicht verstanden fühlte. Ihre Unterhaltung klang nach einem Disput unter Gelehrten, wie vor einem Gericht.