Er staunte nicht schlecht.
Die Mineure der Dritten bewiesen, dass sie sich auch auf die Baukunst verstanden. Sie hatten die überwundenen Wälle eingerissen und aus den Steinen einen großen, dreieckigen Turm errichtet, dessen vordere Kante wie die Schneide eines Fallbeils auf die beiden Mauern Eisenwarts zeigte und sie um 20 Schritte überragte.
Das Bauwerk war schief angelegt worden und mit Streben versehen, die es am vorzeitigen Einsturz hinderten. Um die Streben aber waren Seile gelegt worden.
Tungdil kam gerade rechtzeitig, um mitzuverfolgen, wie fünfzig Dritte die Seile aufnahmen und mit aller Gewalt daran zogen, um die Streben einzureißen. Der Turm senkte sich langsam nach vorn, wurde im Fallen schneller und schlug dann wie ein gewaltiger Keil in die Mauer ein. Turm und Festungsmauern barsten, die notwendige Bresche war geschlagen.
Die Dritten begannen mit ihrem Sturmangriff.
»Ich habe gleich gesagt, dass es ein Fehler ist, sie nicht am Bau des Turms zu hindern«, kommentierte Boïndil und schaute nach unten. »Die Freien sind nicht geschaffen zum Kampf«, schätzte er ihr Können und die Versuche ein, die Feinde aufhalten zu wollen. »Selbst unsere zahlenmäßige Überlegenheit bringt uns kaum etwas.« Gemeinsam liefen sie zu der absenkbaren Plattform, um nach unten zu gelangen und in den Kampf einzugreifen. »Wenn Xamtys nicht bald zurückkehrt, hat Lorimbas sein Reich fest in der Hand.«
Tungdil entdeckte Salfalur in den ersten Linien, wo er mit einem einzigen Hieb des übergroßen Hammers gleich mehrere Zwerge auf einmal erschlug. »Ich kümmere mich um ihn«, sagte er, und die Finger schlossen sich um den Stiel seiner Axt. »Nimm du dir Lorimbas vor.«
Die Verteidiger ließen heiße Schlackeströme auf die Feinde niedergehen; Petroleum ergoss sich auf sie und entflammte auf wundersame Weise, kurz bevor es die feindlichen Zwerge erreichte.
Auf der linken Flanke der Verteidiger flackerten Feuerwolken auf. Narmora und Rodario taten alles, um die Dritten zurückzudrängen, sie mit echter Magie, er mit technischen Spielereien und so tuend, als schleuderte er einen Zauber nach dem nächsten gegen sie. Djerůn wachte darüber, dass ihnen keiner zu nahe rückte.
Aber selbst vor ihm, der dreifach großen Kreatur, kannten die Dritten keine Furcht. Sie wichen zurück, um den Lanzen- und Pikenträgern Platz zu machen, die ihn aus sicherer Entfernung zu attackieren versuchten.
Noch gelangten sie nicht zur Rampe, die zum zweiten Haupttor führte. Dahinter lag der Aufgang zum neunten Turm, von dem eine Brücke über den Abgrund in das Reich von Königin Xamtys II. führte. Solange das Tor verschlossen blieb, brachte den Dritten der erfolgreiche Kampf gegen die Freien gar nichts, welche die Rampe hartnäckig verteidigten.
Tungdil focht sich vorwärts und hatte Salfalur beinahe erreicht, als er den Schrei Myrs hörte.
Er wandte sich um und entdeckte sie, am Boden vor dem Tor liegend, die Instrumententasche neben sich. Sanda Feuermut stand drohend über ihr, eine Keule mit einer Eisenkugel am Ende führend. Die Flügeltüren des entscheidenden Durchgangs schwenkten soeben auseinander, was von den Dritten sogleich bemerkt wurde.
Also doch! Sanda ist eine Verräterin! Tungdil hastete zurück, drängelte sich durch die Zwergenleiber, um seiner Gemahlin beizustehen. Und ich Narr vertraute ihr.
Bevor er sie jedoch erreichte, sprang Ingrimmsch herbei, stürzte sich auf die Kriegerin und schleuderte sie zu Boden.
Myr trug den Abdruck von Sandas Hand im Gesicht, feuerrot zeichneten sich die fünf Finger auf der rechten Wange ab, Blut rann aus ihrer Nase und dem Mundwinkel. »Sie hat das Tor für die Dritten geöffnet«, keuchte sie und stand mit Tungdils Hilfe auf. »Ich habe es zu spät bemerkt.«
»Ich weiß, deine Mission«, sagte er und küsste sie voller Erleichterung, dass Boïndil dazwischengegangen war. »Komm, wir müssen das Tor schließen.« Sie eilten durch den Torbogen, Tungdil fluchte. Sanda hatte die Winde unbrauchbar gemacht, die Kette lag vollständig abgewickelt als grauer Haufen auf dem Stein.
Währenddessen parierte die Dritte die Angriffe Ingrimmschs, als wäre es ein Kinderspiel für sie, was ihn natürlich noch mehr anstachelte. Schon schienen seine Augen ins Leere zu blicken, der Kampfgeist hatte von seinem Verstand Besitz ergriffen und leitete ihn. »Ich werde dir zeigen, was es heißt, die Lebensretterin meines Bruders töten zu wollen«, grollte er und steigerte die Geschwindigkeit seiner Angriffe.
»Ich wollte sie nicht töten«, widersprach sie und musste nun schon mehr Acht geben, um den zuckenden Beilen zu entkommen.
»Verräterin!« Er täuschte einen hohen Schlag an.
»Ich? Sie hat das Tor doch ge...« Das Beil vollführte einen unerwarteten Schwenk und schlug ihr von unten in die Achsel. Es knirschte und klirrte, Kettenhemd und Knochen wurden zerteilt. Während Sanda noch mit dem Schock und dem Schmerz rang, trat Ingrimmsch ihr von vorn gegen die Kniescheibe, brach sie und zwang sie nieder.
»Sie lügt!«, schrie Myr aufgebracht, riss ihren Dolch hoch und wollte sich auf sie stürzen, aber Tungdil hielt sie davon ab.
»Beruhige dich, sie kann dir nichts mehr tun.«
»Ich schwöre es«, stöhnte Sanda und versuchte mit der anderen Hand, die Blutung aufzuhalten. »Myr hat das Tor geöffnet, ich kam zu spät.« Sie schluckte. »Ich kenne sie. Sie ist die Tochter von Lorimbas.«
»Sicher!«, lachte Ingrimmsch. »Und ich bin Vraccasʹ leiblicher Sohn.«
»Sie ist es!« Sanda lehnte sich ermattend gegen die Mauer, ihr Blut schoss aus der tiefen Wunde, das Beil hatte die Schlagader gekappt. »Ich erkannte sie am ersten Tag, als sie in Goldhort auftauchte, und wollte es Gemmil sagen, aber sie drohte mir. Sie würde ihrem Vater eine Botschaft senden, und alle meine Verwandten würden umgebracht werden.«
»Schamlose Lügnerin!« Myr zeigte mit dem Dolch auf sie. »Du versuchst vor deinem Tod, Zwist zu säen. Du bist die Dritte, nicht ich.«
»In Porista hat sie den Überfall auf sich vorgetäuscht, um Romo die gesamten Aufzeichnungen zu geben, ohne einen Verdacht zu erwecken. Warum hätte er ihr sonst das Leben geschenkt?«, redete sie leise weiter und schloss die Augen. »Hat sie dir erzählt, Tungdil, dass sie schon zweimal verheiratet war? Der eine Mann starb am Fieber, der andere erkrankte und kam in den Flammen um, als das Schlafzimmer brannte.« Sie richtete ihre braunen Augen auf ihn und er konnte keine Lüge darin erkennen. »Als ich sah, dass sie sich an Gemmil anpirschte, kam ich ihr in die Quere.«
Tungdils Gedanken überschlugen sich, er musste an die Ereignisse in Porista denken, an die Rückreise, ihren ungewöhnlichen Gefühlsausbruch nach dem Brand. »Mein Fieber, Myr, das Feuer im Gasthof«, begann er langsam. »Schwöre, dass es ein Zufall war.« In ihren roten Augen flackerte Unsicherheit auf. Er packte sie am Arm, zog sie zu sich wie ein störrisches Kind. »Schwöre es bei deiner Liebe zu mir!«
Tränen quollen ihr aus den Augenwinkeln. »Tungdil... Ich... Du glaubst einer Dritten mehr als mir?«, bäumte sie sich halbherzig gegen seine Forderung auf.
»Schwöre es, und ich rede nie wieder darüber.«
Sie senkte den Blick. »Ich hätte dir niemals neues Leid zufügen können. Die Gefühle für dich kamen, und ich konnte nichts dagegen tun. Seit jener Nacht im Gasthof verstand ich, dass du für mich mehr bedeutest, und... ich...« Sie fing an zu weinen.
»Myr, sag, dass du nicht Lorimbasʹ Tochter bist«, raunte Tungdil. Er fühlte sich übler verraten denn je zuvor. Erst Balyndis, jetzt sie, meine Gemahlin. Mit einem Mal war alles um ihn herum unwichtig, der Kampf gegen die Dritten, die Rettung des Geborgenen Landes...
Sie schniefte, trocknete die Tränen mit dem Ärmel ihrer Robe und blickte ihm fest in die Augen. »Doch, Tungdil. Ich gestehe es, dass mein Vater Lorimbas Stahlherz mich zu den Freien sandte, um sie auszuhorchen, ihre Geheimnisse zu erkunden und die Eroberung vorzubereiten. Ich wurde so bleich geboren, wie ich bin. Die Natur gab mir die bestmögliche Tarnung, und zusammen mit ein paar Lügen und Augenaufschlägen gehörte ich zu den Freien. Aber du hast alles verändert.« Sie nahm seine Hand. »Ich sollte dich eigentlich töten, doch mein Herz entschied sich anders. Du...«