Sie schaute an ihm vorbei und erschrak. Schnell packte sie ihn bei den Schultern und machte einen Schritt um ihn herum, da traf sie etwas mit solcher Wucht in den Rücken, dass sie gegen ihn taumelte. Tungdil fing sie auf, sie öffnete die Lippen und rang nach Luft wie eine Ertrinkende.
Hinter ihr stand Salfalur. Die Hände umspannten den Griff des Kriegshammers, an dessen Kopf ein unterarmlanger Sporn angebracht war. Die Spitze ragte aus Myrs Brustkorb, sie hatte sich durch die Robe gebohrt und berührte beinahe Tungdils Kettenhemd.
»Ich hätte dir nie mehr...«, seufzte sie, ihre Finger gruben sich in seine Schultern. »Denke nicht zu schlecht von mir.« Ihr zierlicher Leib erschlaffte. Myr starb in Tungdils Armen und trug trotz der Qual noch ein letztes Lächeln für ihn auf dem Gesicht.
Salfalur zog das Eisen behutsam zurück. Die Spitze glitt mit einem leisen Schmatzen aus ihrem Rücken.
»Hat es dir nicht gereicht?« Tungdil legte sie sanft auf den Stein und hob seine Axt. »Du hast mir nicht nur meine Eltern genommen, sondern nun auch noch mein Weib?«
»Dein Weib?« Salfalur starrte auf Myr, er schien eingefroren zu sein. »Nein. Nicht dein Weib.« Seine Linke streckte sich, er berührte das Blut, das an dem Sporn hinablief, und zerrieb es zwischen den Fingern. »Meines. Wegen dir habe ich meine Gemahlin getötet«, entgegnete er kalt. »Dafür wirst du tausend Tode sterben, Tungdil Goldhand.«
»Deine...« Erschüttert machte er einen Schritt zurück, fing sich dann aber wieder. »Dann sollten wir das Ende nicht warten lassen«, schlug er düster vor und machte sich kampfbereit.
Sie umkreisten sich, jeder wartete darauf, dass der andere begann.
Salfalur eröffnete das Duell, hob seinen Hammer, als wäre er so leicht wie ein Besenstiel - und fing den Schlag noch in der Luft ab. Das Hornsignal seines Königs rief ihn zum überraschenden Rückzug, Königin Xamtys war mit einem Teil ihrer Soldaten dem eigentlichen Zug der Heimkehrer vorausgeeilt und zeigte sich auf den Zinnen.
Tungdil sah, dass Salfalur mit sich rang, den begonnenen Kampf zu Ende zu bringen, doch als Kriegsmeister trug er die Verantwortung für die Truppen. Schließlich senkte der Zwerg die Waffe, in den braunen Augen stand das Versprechen, den Zweikampf zu beenden. Nicht hier und nicht an diesem Tag.
Tungdil nickte.
Und noch eine Zwergin sollte diesen Tag nicht überleben. Sanda Feuermut wartete in den Armen von Gemmil auf den Tod, der Blutverlust war zu groß.
Boïndil stand daneben und wusste nicht, was er tun sollte.
»Es ist gut«, versicherte sie mit stockender Stimme. »Ich kenne deinen Fluch, Boïndil Zweiklinge, du konntest nicht anders.«
Er sank neben ihr auf die Knie. »Ich...«
»Nein, gräme dich nicht. Ich verzeihe dir.« Sie hob die Hand, ihre blutverschmierten Finger öffneten sich.
Ingrimmsch stand die Reue im Gesicht. Er umfasste wortlos die Hand, und bald darauf wich das Leben aus Sanda. »Vraccas muss mich hassen, dass er mich das tun ließ, ohne mir mein Leben zu nehmen«, sagte er leise mit versteinerter Miene. Die Tränen in seinen Augen zeigten, was in ihm vorging. »Ich hätte sie ebenso gut niederschlagen können, doch mein heißes Blut ließ mich eine weitere Zwergin im Kampfrausch töten. Zuerst Smeralda, nun Sanda.«
Gemmil stand auf und winkte ein paar Zwerge der Freien herbei, die ihre tote Königin behutsam aufhoben und in die Festung trugen. »Es ist, wie sie gesagt hat: Du kannst nichts dafür, Boïndil. Du bist Myrs Arglist aufgesessen, und gegen deine Natur, deinen Ingrimm kannst du nicht ankommen.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter zum Zeichen, dass auch er ihm nichts nachtrug, und ging davon.
Es ist kein guter Tag. Tungdil betrachtete den Leib der Chirurga und das blutgetränkte Kleid, dann nahm er sie auf die Arme, überquerte den mit Toten und Verletzten übersäten Hof und folgte den Dritten, die sich zurückfallen ließen.
»Lorimbas!«, rief er laut. »Ich bringe dir deine tote Tochter, erstochen von der Hand Salfalurs.« Er legte sie zu seinen Füßen nieder. »Hier ist sie. Wenn du sie bestatten möchtest, hol sie dir.«
Lorimbas erschien, umringt von zwanzig seiner Krieger. Ohne Salfalur. »Es liegt ein Fluch auf dir, Tungdil Goldhand.« Ohne ihn anzuschauen, ging er neben Myr in die Knie und streichelte ihr weißes Haar. »Du tötest alles, was mir lieb und teuer ist. Zuerst Romo, nun Myr.« Er hob sie zärtlich auf. »Es wird keinen Frieden geben zwischen uns, Tungdil. Dein Vater war ebenso wie du. Mit ihm begann alles, und mit deinem Tod wird es enden.«
»Lorimbas Stahlherz!« Xamtys näherte sich ihnen. »Hier bringe ich dir deine restlichen Leute.« Sie deutete auf eine Hand voll Zwerge. »Das sind alle, die von deinem zweiten Heer, das West-Eisenwart angreifen sollte, übrig geblieben sind.«
»Dann sind die Ersten wohl doch bessere Krieger, als ich angenommen hatte.« Er warf einen verächtlichen Blick auf die Überlebenden, die über und über mit Brandmalen und Schnittwunden versehrt waren.
»Es waren nicht die Ersten, mein König«, sagte einer von ihnen mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Es waren die Avatare.«
»Was?« Lorimbas Brauen zogen sich zusammen. »Was redest du da? Haben sie dir eine Belohnung für deine Lüge versprochen?«
»Nein, mein König, es gibt sie wirklich!«
»Es gibt sie nicht! Sie sind eine Legende, um Kinder, Bestien und Einfältige zu schrecken!«, schrie der König, seine tote Tochter an die Brust gepresst.
»Wir waren auf dem Marsch nach Westen«, begann ein zweiter Zwerg, »und hatten die Einheiten von Xamtys vor uns, die zurückkehren wollten, als ihre Reiterei uns einholte. Große weiße Pferde, Einhörner, waren darunter, und sie ritten durch unsere Reihen, als kümmerte es sie nicht, ob wir uns wehrten oder nicht. Sie empfanden keine Furcht.« Er wankte und wurde von seinem Nachbarn gestützt. »Als Nächstes kamen sie, leuchtend wie frischer Schnee, auf den die Mittagssonne scheint, strahlender als Diamanten und so heiß wie fünf Essen zusammen. Sie waren überall gleichzeitig, überschütteten uns mit... ich weiß nicht, was es war«, wisperte er verzweifelt. »Mich traf eine Wolke aus Licht, ich stürzte und rappelte mich auf, ehe sie eine zweite sandten, und dann rannte ich um mein Leben, bis ich in die Reihen der Ersten gelangte und sie uns gefangen nahmen.«
Lorimbas wurde nun doch aufmerksam. »Was wurde aus den anderen tausend?«
Der Krieger schüttelte den Kopf, auf dem wenig Haare und viel verbranntes Fleisch zu sehen waren. »Ich weiß es nicht, mein König, doch der Wind, der uns folgte, trug warme Asche mit sich.«
»Wir haben einen Aufklärer entsandt, der uns Ähnliches berichtete. Das Heer von Weyurn, das Ausschau halten sollte, wurde ebenso vernichtet«, sprang ihm Tungdil bei. »Es gibt sie, Lorimbas.«
Der König drückte Myr so fest an sich, dass ihr Blut aus den Wunden floss und ihn besudelte. »Nein, es gibt sie nicht«, flüsterte er. »Nein, nein, nein, es kann sie nicht geben. Wir haben sie erfunden, wir haben nur so getan, als ob...«
»Was unternehmen wir jetzt, Lorimbas?« Xamtys schaute ihn fordernd an. »Kämpfen wir weiter um mein Königreich, oder streiten wir Seite an Seite an der Westseite, um die Avatare vom Eindringen abzuhalten?«
Er streichelte den silbrigen Flaum auf den Wangen seiner Tochter. »Alles ist verloren, was ich angestrebt habe. Nun soll wenigstens das Geborgene Land nicht darunter leiden.« Er drehte den Kopf zu Tungdil, noch immer wollte er ihm nicht in die Augen sehen. »Sollten wir die Schlacht überstehen, werde ich dich zum Kampf fordern! Deine Familienreihe soll ausgelöscht werden, wie es schon längst hätte geschehen sollen.« Sich an die Zwergenkönigin wendend, sprach er: »Ich verkünde hiermit einen Waffenstillstand zwischen uns und allen anderen Stämmen, bis wir die Avatare aufgehalten haben. Das gelobe ich bei meinem toten Kind, dessen Blut an meinen Händen klebt.« Er wandte sich um. »Ich rufe die übrigen Truppen ins Rote Gebirge und erwarte mit euch die Ankunft der Avatare.«