Der Avatar hielt inne und kehrte zu Theogil zurück. Der Zwerg tastete indessen nach seiner Keule. »O ihr Uneinsichtigen«, sagte die Lichtgestalt bedauernd. »Ihr habt euer Verderben selbst gewählt, obwohl wir das gleiche Ziel verfolgen. Nun werdet ihr sterben müssen.«
»Ich zeige dir, dass wir uns nicht vor dir und deinen Soldaten fürchten«, rief Theogil ihm knurrend zu, sprang auf die Beine und lief dem Avatar entschlossen entgegen, einen Kriegsschrei auf den Lippen und die Keule schwingend.
Kurz bevor er die schimmernde Gestalt erreichte, schwoll die Hitze unerträglich an. Das Metall an seinem Körper glühte rot, das Leder verbrannte stinkend, und Fleisch und Blut verdampften schneller als ein Tropfen Wasser in der Glut.
Von Theogil Harthand blieb nichts zurück als ein Häufchen Asche und verkohlte Knochenstücke. Kaum senkten sich die grauen Flocken auf den Stein, wurden sie von den Stiefelsohlen des Avatarheeres, das sich gegen die anrückenden Zwerge warf, vollends zu nichts zerrieben.
Das Geborgene Land, Königreich Gauragar,
Ende des 6234. Sonnenzyklus, Winter
Boïndil stapfte durch den Neuschnee, der wie Puderzucker auf der Erde, den Bäumen und Zelten lag, und betrat als Letzter die Unterkunft, in der die Besprechung stattfand. Er trat ans Feuer, um sich zu wärmen, und nahm einen Humpen Bier vom kleinen Tisch. Wie alle anderen auch, gönnte er sich noch einen letzten beschaulichen Abend, ehe der Heereszug um die Mitte des morgigen Tages den Tafelberg erreichen und sehr wahrscheinlich auf die Avatare treffen würde.
»Diese Bastarde«, sagte Boïndil voller Überzeugung. »Man merkt, dass sie aus Tion entspringen. Von diesem Gott kann nichts Gutes kommen. Selbst wenn sie auf der Jagd nach dem Bösen sind, richten sie Böses an.« Er leerte sein Gefäß und füllte es sogleich wieder. Dabei richtete er seine Augen mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen auf Tungdil. »Gibt es schon Neuigkeiten von unseren Aufklärern, Tungdil?«
»Nur, dass ihre Reiterei den Berg verlassen hat und nach Norden zieht«, sagte Lorimbas statt seiner. »Sie kamen teilweise durch die Tunnel und haben sie hinter sich zum Einsturz gebracht.«
»Und woran haben das deine Späher erkannt?«, wollte er wissen.
»An den Spalten, die sich oberirdisch bildeten«, antwortete der König der Dritten. »Mit ihrer Zaubermacht haben die Avatare große Strecken der Tunnel, die vom Schwarzjoch ausgehen, einbrechen lassen. Was das Beben nach dem Meteoritenhagel nicht schaffte, haben sie mit ihrer Kraft erreicht.«
Xamtys nickte. »Wir haben ähnliche Beobachtungen gemacht. Auch unsere anderen Tunnel sind nicht mehr sicher; die Heere von Balendilín, Gandogar und Glaïmbar werden oberirdisch reisen müssen.«
»Schlecht für uns.« Tungdil betrachtete einmal mehr die Karte. In Gedanken zog er eine gerade Linie, um die bisherige Marschroute der Avatare und ihres Heeres zu verlängern, und gelangte damit nach Dsôn Balsur. »Wenn man in ihren Dimensionen denkt, macht der Marsch gegen die Albae Sinn«, äußerte er seine Vermutung. »Sie sind derzeit unsere ärgsten Feinde. Zusammen mit der zusätzlichen Macht, die ihnen das Schwarze Wasser gab, sind sie eine lohnens- und vernichtenswerte Beute für die Avatare.«
»Wenn sie nicht so schädlich für die Umgebung wären, wäre ich versucht zu sagen, dass wir sie gewähren lassen sollten«, merkte die Königin an. »Sie sind in der Lage, die Albae auszurotten, was dem Heer aus Menschen, Elben und uns nicht gelungen ist. Seit jener Nacht, als sie die Menschen überfallen haben, finden sich keine Freiwilligen mehr, und auch die Soldaten fliehen scharenweise, wenn sie hören, dass sie gegen Dsôn Balsur geschickt werden.«
»Du sagt es, Xamtys. Seit sie die Kraft des Schwarzen Wassers für sich entdeckt haben, sind sie noch gefährlicher, todbringender geworden«, gab ihr Tungdil Recht. »Die Späher berichteten uns, dass die Gegend um das Schwarzjoch ohne Schnee sei, während wir in wenigen Sonnenumläufen bis zu den Bäuchen durch das Weiß waten werden.« Er schaute zu Narmora. »Bist du bereit für das Zusammentreffen?«
Die Maga hatte die Augen auf die zuckenden Flammen des Leuchters an der Decke gerichtet. »Ich überlege die ganze Zeit, ob meine Magie etwas gegen sie ausrichten kann«, gestand sie. »Ich beschreite den Weg des Ausgleichs, zwischen Gut und Böse, ich habe die Kraft von beidem. Wäre es nicht besser, sie mit etwas zu attackieren, was seine Kraft ausschließlich aus dem Guten schöpft?« Sie löste sich von den Flammen. »Wir werden bald sehen, wie weit ich mit meinen Zaubern komme.«
»Und ich bin an deiner Seite, Mentorin«, versicherte ihr Rodario und gab sich Mühe, unbeschwert und zuversichtlich zu klingen. »Ich werde sie glauben lassen, sie hätten den mächtigsten Magus des Geborgenen Landes vor sich, und du wirst sie aus dem Hinterhalt einen nach dem anderen in die Knie zwingen.« Er nahm einen Schluck Bier und verzog das Gesicht. Zu bitter, zu malzig, zu stark. »Oder jedenfalls versuchst du es«, sagte er etwas leiser. »Ich hätte nach meinem Tod gern eine Statue in Porista, wäre das möglich?«, bat er sie noch leiser, was sie absichtlich überhörte.
Tungdil musste grinsen; er bemerkte, dass Djerůn unbeweglich wie so oft hinter seiner neuen Herrin stand und über sie wachte. Seine lädierte Rüstung machte ihn einschüchternder als je zuvor, denn sie zeigte jedem, der ihn sah, dass er viel überstanden hatte, von Schwerthieben über Lanzenstiche bis Feuer, und trotzdem auf beiden Beinen stand.
Während er ihn betrachtete, kam ihm eine Sache merkwürdig vor. Die Avatare verfügten über enorme magische Kräfte, mit denen sie gegen alles Böse ins Feld zogen, das sie nur finden konnten. Wie die Legende und die Überlebenden der Dritten berichteten, überstand man ein Zusammentreffen mit ihnen durch einen Zufall - oder man war rein genug, was immer das bedeutete.
Aber Djerůn lebt immer noch. Sie hätten ihn eigentlich vernichten müssen. Immerhin ist er ein Wesen Tions und durch seine Kraft gefährlicher als Orks, Bogglins oder Oger. Tungdil spürte ein Ziehen im Magen, die Aufregung packte ihn. Doch er hat ihre Attacken überstanden. Das kann kein Zufall sein.
Ohne sein Verhalten zu erklären, stand er auf, ging zu Narmoras Leibwächter und fuhr mit den Fingern über die Rüstung, zeichnete die vom magischen Feuer geschwärzten Intarsien nach, berührte die eingetriebenen Zeichen und Symbole, die Balyndis auf Geheiß von Andôkai angebracht hatte. Sollen sie ihn bewahrt haben?
»Verzeih, Held des Schwarzjochs, aber was genau machst du gerade?«, erkundigte sich Rodario verwundert. »Sicher, ihr Zwerge habt ein Schwäche für gut gemachte Schmiedekunst, aber ist das nun wahrhaftig die rechte Stunde, um solche Arbeit zu begutachten?«
Tungdil antwortete nicht auf den Einwurf des Mimen. »Narmora, frag Djerůn, was genau geschah, als er den Avataren begegnete«, bat er sie.
»Muss ich nicht. Er versteht dich«, antwortete sie, und kurz darauf ertönten die Laute, die keiner der Anwesenden außer der Halbalbin verstand. »Nun, wenn ich es richtig vernommen habe, so haben sie ihn mit Zaubern attackiert.«
Tungdil trat einen Schritt zurück und pochte gegen das Eisen. »Und wieso hat er überlebt, was die gerüsteten Zwerge der Dritten vernichtete?«, warf er die Frage in die Runde. »Djerůn ist ein Wesen, das schwerlich auf die Gnade der Avatare vertrauen dürfte. Sie müssten alles daran gesetzt haben, ihn zu vernichten. Dennoch haben sie es mit ihrer angeblich immensen Macht lediglich geschafft, seine Rüstung mit Ruß zu belegen. Hätte ihn das Heer, das sie begleitete, nicht niedergerungen, so vermute ich, dass sie ihn gar nicht hätten halten können.«