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»Aber mit welchem Ziel?«, fragte Tungdil sich, hob einen leeren Trinkschlauch auf, roch daran und ließ ihn angewidert fallen. Es stank ekelhaft. »Warum haben sie uns nicht attackiert? Sie waren uns an Zahl weit überlegen.« Er fasste einen Entschluss. »Vorwärts. Ich will sehen, was sie vorhaben«, befahl er, was bei Boïndil sogleich auf Gegenliebe stieß. Tungdil war sich bewusst, dass sein Volk nicht zu den schnellsten gehörte und die Orks die besseren Läufer abgaben, doch ihnen blieb keine andere Wahl.

»Hussa, das nenne ich eine große Herausforderung«, kommentierte Ingrimmsch den Entschluss. »Wir hundert gegen mehrere Tausend, das macht für jeden von uns...« Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sich das Wiedersehen mit seinem Zwillingsbruder verschieben würde, und seine Begeisterung schwand.

»Nein, wir greifen sie nicht an. Wir verfolgen sie, um herauszufinden, was sie bezwecken«, unterbrach Tungdil den Freund. Er schickte zwei seiner Krieger nach Süden, um Prinz Mallen von ihrer Entdeckung zu berichten, zwanzig weitere sandte er sternförmig aus. »Ihr müsst die Bewohner Gauragars warnen«, schärfte er ihnen ein. »Sie sollen sich in die Gebirge oder in eine größere Stadt flüchten.«

»Ist es dir aufgefallen?«, fragte Boïndil sinnierend. »Man hat die Schweineschnauzen erstochen und geköpft. Die Stichwunden hätten bei beiden ausgereicht, um sie zu töten, Gelehrter.«

»Ein Exempel«, vermutete Tungdil. »Vermutlich wollte der Anführer seine Macht zur Schau stellen und andere Aufsässige einschüchtern.«

»Mh.« Ingrimmsch schien nicht einverstanden zu sein. »Den hier hat er gleich dreimal erstochen und geköpft. Ich finde es eindrucksvoller, wenn man einen Feind mit einem einzigen Hieb enthauptet.« Er imitierte das Geräusch eines surrenden Beils. »Es beweist Stärke und ein gutes Auge.«

»Welchen Sinn sollten die Wunden sonst ergeben?«, beharrte Tungdil auf seiner Einschätzung, und weil ihm Boïndil keine andere Erklärung lieferte, blieb es dabei.

So begannen sie ihre Wanderung durch Gauragar, das zusehends hügeliger und steiniger wurde. Die Wiesen wichen graubraun gesprenkelten Felsfeldern, zwischen denen spärliche Halme aufragten. Dennoch hinterließen die Stiefel der Orks und ihre Abfälle unverwechselbare Spuren, die sie weiter nach Norden führten.

»Hast du auch von dem Entseelten Wald gehört?«, fragte Tungdil Ingrimmsch unterwegs. »Ein Späher Mallens berichtete gestern am Lagerfeuer davon.«

Der Krieger machte große Augen. »Ein Entseelter Wald? Ist es so schlecht, wie es sich anhört?«

»Es scheint, als hätte sich das Tote Land an einigen Stellen ein Rückzugsgebiet geschaffen«, fasste er das Gehörte für seinen Freund zusammen. »Man erkennt diese Stätten an den schwarzen Bäumen. König Bruron hat ein Verbot ausgesprochen, sie zu betreten. Die Menschen werden darin wahnsinnig.«

»Nicht gut«, brummte Boïndil. »Ich dachte, wir wären das Tote Land los, stattdessen hat es uns Eier gelegt.«

Tungdil betrachtete die Spuren der Orks. »Andôkai sollte sich darum kümmern. Wenn das Tote Land seinen Keim in die Erde gebracht hat, wer weiß, ob es sich von dort nicht ausbreitet.«

Der Zwilling nickte zustimmend und übernahm es, die Nachricht unter den Zwergen zu verbreiten, damit sie unterwegs Ausschau hielten. Jeder schwarze Fleck sollte bemerkt und König Bruron gemeldet werden.

Plötzlich, am zweiten Sonnenumlauf ihrer Verfolgung, bogen die Spuren nach Osten ab, geradewegs auf den höchsten Hügel zu. Offenbar gab es in dieser Richtung etwas Besonderes.

Am Abend des dritten Sonnenumlaufs geschah das Unfassbare: Sie holten die Streitmacht ein, die sich zwei Meilen vor ihnen über die Erhebung wälzte und dahinter verschwand.

»Oink, oink«, machte Ingrimmsch erwartungsvoll, aber Tungdil sah ihn scharf an, um ihn zum Verstummen zu bringen.

»Kein Gefecht«, schärfte er ihm nochmals ein und legte eine Hand beschwichtigend auf Boïndils Unterarm. »Wir würden es nicht überstehen.«

Mit aller Vorsicht setzten sie den Scheusalen nach, erklommen den steilen, karg bewachsenen Hang und hielten unterhalb des schmalen Grats an.

Tungdil zog seinen Helm ab; das lange braune Haar wehte im sanften Wind. Behutsam schob er sich hoch, damit nicht mehr als seine Stirn und die Augen über die niedergetrampelten Halme ragten. Boïndil tat es ihm nach.

Der nächste Schrecken ließ nicht lange auf sich warten. Die Orks bewegten sich auf einen finsteren Ort zu. Tungdil betrachtete die schwarzen, abgestorbenen Bäume, zwischen denen die Bestien verschwanden. In der Mitte des Waldes lag ein pechschwarzes Gewässer, dessen Wellen wie Tinte über die Steine am Ufer schwappten und dunkle Schlieren hinterließen.

Tungdil ahnte, was sich vor ihnen ausbreitete: »Ein Entseelter Wald! Hier werden sie sich wohl fühlen«, sprach er seine Gedanken laut aus.

Ingrimmsch starrte fassungslos hinab. »Verfluchte Erde! Was wollen sie dort? Ihr neues Reich gründen? Es ist selbst für sie zu karg.«

Sein Freund hörte die stumme Bitte, das Verlangen nach einem Gefecht. »Wir unternehmen nichts«, erwiderte er. »Prinz Mallen wird König Bruron unterrichten, dass wir einen neuen dieser seelenlosen Orte gefunden haben. Der König kümmert sich gewiss darum, dass die Orks bleiben, wo sie sind. Oder vernichtet werden, wenn sie hinauswollen.«

Er reckte sich ein wenig, um über die laublosen Baumkronen schauen und deren Ausdehnung abschätzen zu können. Das Schwarz erstreckte sich gut eine Meile lang und breit, einen schwarzen Teppich der Angst und des Grauens bildend. Er rümpfte die Nase, als der Wind ihm einen bekannten Geruch zutrug. Derselbe faulige Gestank wie aus dem Wasserschlauch lag in der Luft, er stammte offenbar vom dem See in der Mitte des Waldes. »Würdest du etwas trinken, was so riecht?«

Ingrimmsch gab ein würgendes Geräusch von sich. »Nicht einmal, wenn ich am Verdursten wäre«, sagte er.

Siedend heiß fielen ihm die Worte des Spähers ein. Sie mussten die Wahnsinnigen köpfen, die hinein gerieten, damit sie starben. Er betrachtete den tintenfarbenen See. Was, wenn die beiden toten Orks, die wir gesehen haben, von dem Wasser getrunken haben? Waren auch sie wahnsinnig und wurden deshalb enthauptet? Er wusste keine schlüssige Antwort auf seine Fragen. So rutschte er hinter den Grat zurück, um den übrigen Zwergen von der Entdeckung zu berichten. Sie harrten aus, bis schließlich eine Abordnung von König Bruron erschien. Ausführlich berichtete Tungdil den Menschen, was sich ereignet hatte.

»Lasst uns nach Hause gehen«, entschied er dann, was sogar Ingrimmsch mit Erleichterung aufnahm. Die Aussicht, nach langer, langer Zeit endlich seinen Bruder wieder zu sehen, ein Zwergenmahl in den Magen zu bekommen und das beste Bier des Geborgenen Landes in die trockene Kehle zu gießen, dämpften seine Kampfeslust.

Und so begaben sich die Zwerge auf den weiten Rückweg.

Das Geborgene Land, Schwarzes Gebirge,

Zwergenreich der Dritten,

6234. Sonnenzyklus, Spätwinter

»Bislipur hat sich für zu schlau gehalten«, sprach eine tiefe Stimme. Die hohen Wände warfen sie als raues Echo zurück, dann herrschte Ruhe, nur das Knacken und Knistern der Fackeln störte das Schweigen. Der Panzerhandschuh mit den Eisendornen über den Knöcheln ballte sich zur Faust, die Metalllamellen rieben aneinander. »All die Sonnenzyklen des ausgeklügelten Ränkespiels für nichts und wieder nichts. Ich ahnte das Missraten von Anfang an.«

»Nun, es hat dazu geführt, dass die anderen drei Stämme geschwächt sind, mein König. Am Schwarzjoch hat es hunderte von ihnen das Leben gekostet. Das kommt uns in den nächsten Zyklen sehr zupass.« Die Feuer beleuchteten den narbengeschmückten, kahlen Schädel des Redners. Der Verlauf der Linien entsprang nicht dem Zufall - sie waren zur Zier des Trägers ins Fleisch geritzt worden. Die besten Tätowierer hatten das grausame Antlitz mit geschickt angeordneten Zwergenrunen versehen. Dem Feind, der sie las, verhießen sie Übles. »Sie haben ihre besten Krieger gegen die Horden Nôdʹonns geworfen«, sagte er bedächtig. »Somit sind die Clans zahnlos geworden wie ein Greis.«