Sie sprang über die Verletzten hinweg und suchte Rettung in dem vertrockneten Unterholz des Wäldchens, aus dem heraus sie angegriffen hatten.
Die Reiterei der Unbekannten fiel bald zurück, und die Fußtruppen konnten es mit ihrer Geschwindigkeit schon gar nicht aufnehmen. Dennoch wurde Ondori nicht langsamer, die Furcht vor dem heißen Licht beflügelte sie, peitschte sie an, ließ sie Seitenstechen und Atemnot vergessen, bis sie eine Lichtung erreichte und erschöpft zusammenbrach.
Sie blieb nicht lang allein. Nach und nach gelangten mehrere Überlebende ihrer Einheit zu ihr, mehr als zehn wurden es nicht.
Der Rest lag irgendwo weit hinter ihnen auf dem Weg, verbrannt oder erschlagen.
»Was war das?«, keuchte ein Alb verstört und erhoffte sich eine Antwort.
Ondori konnte nicht sprechen. Ihre Lungen taten weh, und als sie die schmerzende Stirn oberhalb ihrer Maske berührte, zerfiel die Haut raschelnd zu nichts, haftete als schwarze, klebrige Asche an ihrer Hand und gab die Sicht auf ihren Schädelknochen darunter frei.
Ihr wütender und zugleich gequälter Schrei hallte laut durch die Nacht, ihre Finger gruben sich in das Erdreich.
Unvermittelt traten ein paar breite, ausgelatschte Stiefel in ihr Gesichtsfeld. »Ho, was haben wir denn hier?«, sagte eine brummige Stimme, dann traf sie ein schwerer Gegenstand in den Nacken, und sie sank betäubt nieder.
VI
Das Geborgene Land, 21 Meilen nordwestlich von Dsôn Balsur,
Ende des 6234. Sonnenzyklus, Winter
»Ich kenne sie. Ihre Maske hat sie verraten. Sie stand mir im Grauen Gebirge gegenüber und wollte mich töten.« Tungdil betrachtete die gefesselte Albin, die neben dem Lagerfeuer auf dem gefrorenen Boden ruhte. Um sie herum saßen er und seine Freunde und warteten, dass sie zu sich kam. »Sie hat die Feuerklinge mitgenommen.«
Ingrimmsch hielt eines seiner Beile schlagbereit, um die Albin beim geringsten Anzeichen einer Gemeinheit zu töten. »Das dauert mir zu lange«, sagte er unzufrieden.
»Hättest du nicht so hart zugeschlagen, wäre sie wach«, erinnerte ihn Boëndal daran, wer die Schuld an ihrer Ohnmacht trug.
»Dann wecke ich sie eben.« Er nahm eine Hand voll Schnee und warf ihr ihn ins Gesicht. Die Maske hatten sie ihr abgenommen, darunter offenbarte sich ihnen ein klassisches, schmales Antlitz, wie es die Albae und Elben gleichermaßen auszeichnete. Tungdil sah die Brandwunden auf ihrem Gesicht; die Flammen der Axt hatten sie für immer gezeichnet.
Der Schnee prasselte gegen sie und fiel zur Erde, teilweise blieb er auf der warmen Haut haften und taute.
»Vielleicht bringt Hitze mehr. Sie sieht aus, als hätte sie ihre Erfahrungen damit gemacht«, mutmaßte Boïndil und beugte sich nach vorn, um mit den Handschuhen ein Stück Glut aufzunehmen.
Die Albin riss die Lider in die Höhe. »Wag es nicht«, zischte sie.
»Ich wusste es. Das Schwarzauge ist wach«, griente er und zeigte ihr sein Beil. »Benimm dich, oder ich hacke dich wie Petersilie.«
Tungdil nickte ihr zu. »Nun sehe ich dich doch ohne deine Maske.«
»Du hast meinen Eid gebrochen. Dafür wird dich der Fluch Tions treffen«, spie sie hasserfüllt aus. »Lange hast du nicht mehr zu leben, Goldhand. Ebenso wenig wie deine Freunde.«
Rodario schüttelte den Kopf. »Nun hört sie euch an, die kleine Wildkatze mit den spitzen Ohren. Wir haben sie verschnürt wie einen Braten, und sie versucht immer noch, ihre Krallen in uns zu schlagen.« Er stellte sich in Pose. »Höre, Albin. Ich bin Rodario der Unglaubliche, Famulus von Narmora der Unheimlichen, und ich könnte dich auf der Stelle vernichten, wenn ich wollte, aber wir werden dir das Leben schenken, wenn...«
»Sag uns, wo die Feuerklinge ist«, fiel ihm Boïndil in die Rede, was ihm der angebliche Famulus mit theatralischer Empörung vergütete.
»Dort, wo ihr sie niemals erlangen werdet«, antwortete Ondori.
»Nein, wir nicht. Aber es kann durchaus sein, dass andere in eure Hauptstadt gelangen und sie dem Erdboden gleichmachen«, sprach Tungdil.
»Du meinst die Fremden? Und man benötigt die Feuerklinge, um sie aufzuhalten?« Hoffnung keimte in der Albin auf; sie hob den Blick und richtete ihn auf den Zwerg.
»Sie ist also in Dsôn?«, schloss er daraus.
Die Albin schwieg und versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was sie soeben erfahren hatte. Als sie vorgetäuscht hatte zu schlafen, hatten sich die Zwerge über die Fremden unterhalten. In Ondoris Ohren hatte es so geklungen, als wollten sie sich dem Heer in den Weg stellen. »Da ihr sie nicht gerufen habt, warum wollt ihr sie aufhalten?«, erkundigte sie sich. »Tun sie nicht genau das, wonach ihr immer getrachtet habt?«
»Sie hat wirklich keine Ahnung«, entfuhr es Rodario verblüfft. »Sag, kleine Wildkatze, hast du schon einmal etwas von der Legende der Avatare gehört?« Als sie verneinte, gab der Mime die Geschichte in ausschmückenden Worten wieder, dichtete ein wenig hinzu, um ihr noch mehr Angst einzujagen, und endete, indem er mit ausgestrecktem Arm nach vorn zeigte. »Deine Männer verglühten in der Reinheit der Avatare, in den Splittern des Gottes, den du anbetest. Ich finde das eine herrliche Ironie, nicht wahr?«
»Sie werden nicht eher Ruhe geben, bis sie die Letzten von uns vernichtet haben«, sagte Ondori nachdenklich. Nun erklärte sich einiges: ihr schlechtes Gefühl beim Angriff auf die Nachhut des Feindes, warum ihr Segenszeichen in dem Schein verbrannt war, weshalb das Schwarze Wasser in ihren Adern seine Wirkung verlor... Und sie erkannte, dass es nichts gab, was Dsôn Balsur vor der Invasion der Avatare bewahren konnte. Außer den stinkenden Unterirdischen. Sie lachte auf. »Ja, das ist wahrlich Hohn. Nun müssen wir von denen geschützt werden, die uns am liebsten vernichten würden.«
»Im Grunde«, begann Tungdil und schaute sie ernst an, »kommt es noch besser. Wir müssten Seite an Seite kämpfen, um den Feind mit geeinten Kräften anzugreifen.«
»Unterirdischer, wir können vor ihrer Macht nicht bestehen«, widersprach sie schaudernd, an die Wolke aus Licht und Hitze denkend. »Ebenso könntest du verlangen, dass sich ein Schneeball auf die Sonne stürzt.«
»Der Schneeball muss nur groß genug sein«, hielt er dagegen und schickte sich an, ihre Fesseln zu durchschneiden. »Vergiss die Feindschaft zwischen uns und kehre rasch in die Hauptstadt zurück. Triff dich mit deinem Herrscher und erkläre ihm, was eurem Reich droht. Je mehr sich den Avataren und ihrem Heer in den Weg stellen, desto bessere Aussichten haben wir gegen sie.«
»Ich werde es tun.«
Als Ondori sich die Maske anlegte, um ihre Entstellung zu verbergen, schob sich eine Frau in einer schwarzen Lederrüstung nach vorn; sie hatte viel zu schmale Züge, um ein Mensch zu sein. »Mein Name ist Narmora, ich war die Schülerin von Andôkai der Stürmischen«, stellte sie sich in der Sprache der Albae vor, und auch wenn ihre Betonung furchtbar und ihr Akzent grausam war, verstand Ondori sie. »Richte deinen Herrschern Folgendes aus: Wenn sie uns keine Krieger schicken, lassen wir die Avatare passieren und sehen zu, was sie aus eurem Reich machen. Bevor wir wertvollere Leben opfern, um euch zu retten, gewähren wir den Avataren lieber mehr Macht.« Ihre Augen wurden schwarz und drohend. »Lasst es euch gar nicht erst einfallen, nichts zu tun, oder ich zeige den Wesen persönlich den Weg ins Herz von Dsôn Balsur und helfe ihnen bei der Zerstörung.«
Sie ist eine von uns! Ondori konnte nicht anders, sie musste nicken. »Ich werde es den Unauslöschlichen übermitteln«, krächzte sie rau, streifte die Stricke ab und erhob sich.
»Schwöre es bei deinem Blut«, verlangte die Maga finster, packte den linken Arm der Albin und schnitt ihr über den Handrücken; dann hielt sie ihr die rot schimmernde Messerklinge vor die Augen. »Damit findet dich mein Zauber überall, er wird sich wie ein Raubtier an deine Spur heften und dich vernichten, wenn ich den Eindruck gewinne, dass du mich hintergehst.«