Aber schon hebt sich der Vorhang für ein weiteres Spiel, das mich das Leben kosten kann.«
»Nanu, Rodario?«, neckte ihn Boëndal. »Du wirst nachdenklich?«
»Schon. Es mag am Winter liegen, das ständige Grau, das ist nicht gut.« Er stieß Tungdil an. »Ihm ergeht es ebenso. Seit wir unterwegs sind, hat er beinahe nur geschwiegen. Wie wäre es mit einem Witz? Ich weiß immer noch nicht, wie der mit dem Ork und dem Zwerg geht.«
Tungdil nahm sich von dem warmen Bier. »Mich einen unterhaltsamen Anführer zu nennen wäre wohl übertrieben.«
Ingrimmsch stieß mit ihm an. »Wir machen uns alle Sorgen um Balyndis, du bist nicht der Einzige, Gelehrter. Und wir können uns denken, dass du noch mehr um sie bangst als wir. Alte Liebe rostet nicht, sagt man.« Er biss sich auf die Zunge, um nicht noch mehr zu sagen, was Tungdils Laune senkte. »Verzeih, ich war schon wieder gedankenlos.«
»Du warst schon wieder ehrlich«, verbesserte ihn Tungdil. Und du hast Recht, fügte er bei sich hinzu, darauf wartend, dass sich sein innerer Dämon gleich meldete. Der aber schwieg. Er schwieg, weil Tungdil aufgehört hatte, sich selbst zu belügen. Ich liebe sie immer noch und werde sie immer lieben. Keine wird ihr das Eisen reichen können, und so werde ich besser allein bleiben, als eine Zwergin unglücklich zu machen, weil ich ihre Liebe nicht in vollem Maß erwidere. Er trank von seinem Bier, nahm den Humpen und stand auf. »Kommt, wir wollen wieder Rüstungen schmieden.«
Weitere zwei Sonnenumläufe benötigten sie, bis die Harnische fertig waren und diese einigermaßen passgenau an ihren Körpern saßen; nach vier weiteren Umläufen waren die Arm- und Beinschienen samt der Helme fertig. Die Glieder für die Handschuhe hatten sie vorbereitet und würden sie unterwegs mit Eisendraht zusammenfügen.
Nach schnellem Marsch und wenig Rast quer durch Gauragar gelangten sie schließlich in die Nähe von Porista.
Schon vom weitem sahen sie, wer die neuen Herren der Stadt waren.
Die Banner mit den unbekannten Symbolen flatterten auf den Türmen des Palasts, in der ganzen Stadt waren Zelte aufgeschlagen worden, welche die Häuser teilweise sogar überragten. Patrouillen zogen um den äußeren Rand und kontrollierten jeden, der herein oder hinaus wollte.
»Sie machen es sich einfach.« Furgas deutete auf die Kräne, die hin und her schwenkten; die Bauarbeiten gingen trotz der Besatzung voran. »Scheint so, als gefielen unseren falschen Avataren meine Maschinen.«
Er wollte noch etwas hinzufügen, da spürten sie das Beben unter ihren Füßen. Zuerst war es nicht mehr als ein Zittern, das jedoch anschwoll und den Schnee von den Bäumen um sie herum schüttelte; dann endete es.
Tungdil drehte sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung, um zu sehen, ob das Beben weiterlief.
Tatsächlich rollte es gleichmäßig vorwärts. So als hätte man einen Stein ins Wasser geworfen, breitete die Welle sich rundum aus. Tungdil erkannte es an dem Wippen der Äste und dem niederfallenden Schnee, ehe sie schwächer wurde und verebbte. »Sie machen sich an der Quelle zu schaffen«, lautete seine Einschätzung. »Seht, was sie anrichten.«
Boïndil wischte sich den von den Zweigen gerieselten Schnee von den Schultern, und weil er seinen Helm nicht trug, musste er damit leben, dass sich das Weiß in seinen Nacken gestürzt hatte; dort taute es und rann als eisiges Wasser seinen Rücken hinab. »Wenn es bei dem bisschen Wackeln bleibt, kann es das Geborgene Land ertragen.«
»Es wird besser sein, wenn es erst gar nicht dazu kommt, dass sie die Quelle in irgendeiner Weise beschädigen.« Boëndal schaute auf Furgas und Rodario. »So, ihr beiden Langen. Macht euch nützlich und zeigt uns die Schlupflöcher.«
Furgas deutete nach Norden. »Dort haben wir begonnen, ein neues Kanalsystem zu legen. Die alten Röhren sind eingestürzt, also haben wir die Schächte verbreitert und sie aufgemauert wie ein Gewölbe. Die ersten 500 Schritte sind fertig, sie führen uns von außen bis in die Nähe des Großen Marktplatzes.«
»Habt ihr den Zugang irgendwie verschlossen?« Tungdil prüfte den Sitz seiner Ganzkörperrüstung, sie schuf eine sehr beklemmende Enge; auch der Helm, den er sich überstreifte, schränkte die Sicht sehr ein. Die Zwillinge wirkten ebenso wenig begeistert.
»Ich verstehe nicht, wie das der Topfkopf ausgehalten hat«, kam es hohl unter Ingrimmschs Helm hervor, ein lauter Fluch folgte. »Verdammt, ich habe mir den Bart eingeklemmt. Das Ding reißt mir ganze Büschel aus.«
»Ein Holztor«, sagte Furgas. »Damit keine Tiere nachts in die Stadt kommen. Der Zugang liegt versteckt, sie werden ihn sicherlich nicht gesehen haben.« Er wollte losgehen, aber Ondori schob ihn zurück.
»Lass mich nach vorn«, wies sie ihn an. Sie legte einen Pfeil locker auf die Sehne und pirschte voraus, die anderen folgten ihr mit einem Abstand von zehn Schritten.
»Ihr lieben kleinen Hoffnungsträger des Geborgenen Landes«, sagte Rodario, als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. »Ihr quietscht, klappert und scheppert, als wolltet ihr unbedingt Aufmerksamkeit erregen. Hat denn keiner einen Tropfen Öl dabei, für die Scharniere?«
»Wo wir gerade beim Wundern waren«, Boïndil schob das Visier hoch, »wie hat es Djerůn geschafft, mit dem ganzen Eisen und Stahl am Leib so leise zu sein?«
»Es wäre gut, wenn ihr sein Geheimnis bald ergründen könntet. Ich geriete ungern in Gefangenschaft der Avatare. Versuchen wir es mal damit.« Rodario bückte sich und rieb etwas Schnee auf eine Gelenkstelle, die daraufhin noch erbärmlichere Geräusche von sich gab. »Holla, welch aufsässiges, kleines...«
Ingrimmsch stieß Rodario grob in den Schnee, und er verschwand in einer glitzernden weißen Wolke. »Haltet mir bloß den Schwätzer vom Leib! Mit seinen Einfällen treibt er uns nur in die Arme des Feindes. Wir sollten ihn zur Ablenkung von der anderen Seite nach Porista schicken.«
Aufgebracht sprang Rodario in die Höhe. »Nun, mein wichtigtuerischer Freund Haudrauf und Schlagtot, genau das werde ich auch tun«, sagte er affektiert. »Ich bin immer noch ein unbescholtener Bürger Poristas, der ein Theater betreibt, da dürfte es wohl nicht schwierig sein, in die Stadt zu gelangen.«
»Sei doch vernünftig«, bat ihn Tungdil. »Bleib bei uns...«
»Vielen Dank, nein.« Rodario ließ nicht mit sich verhandeln, er hob den Arm zum Gruß. »Ich warte auf euch am Großen Marktplatz. Bis dahin habe ich gewiss in Erfahrung bringen können, wie die Lage in Porista ist.« Er wandte sich auf dem Absatz um und stolzierte davon.
»Soll er doch gehen«, brummte Boïndil. »Er würde eh unentwegt plappern.«
Tungdil sah ihm nach. Es passte ihm gar nicht, dass Rodario sich von ihnen trennte; mit seiner unnachahmlichen Redegewandtheit hätte er in einer Notsituation nützlich sein können. Andererseits zweifelte er nicht daran, dass sich der Mime einen Weg bis zum Curiosum plaudern würde, ohne auch nur einmal in den Verdacht zu geraten, ein Spion oder ein Feind der Avatare zu sein.
»Ich bin mir zwar nicht sicher, ob er weiß, was er tut, aber er wird es schaffen«, meinte Furgas grinsend. »Er wird ohne Schwierigkeiten hinter die Mauern gelangen, das sei euch versichert. Wer den Verstand eines aufgebrachten Vaters, dessen Tochter verführt wurde, mit Worten einnebeln kann, der kommt überall durch.« Er ging weiter und folgte den Zeichen, die Ondori ihnen in den Schnee malte.