Sein Gegenüber richtete sich auf. Die langen, schwarzen Haare mit den markanten grauen Strähnen hatte der Zwerg zu drei Zöpfen geflochten, die eng am Kopf lagen. »Du sprichst demnach von offenem Krieg? Dazu ist es zu früh.«
Der Kriegsmeister und Feldherr des Königs hob die Schultern. Seine Rüstung machte die Bewegung knirschend mit; sie bestand aus Kettenringen und kleinen Stahlplättchen, die kunstvoll miteinander verwoben waren. »Gab es jemals eine günstigere Gelegenheit, Lorimbas Stahlherz? In den letzten zweihundert Zyklen sicherlich nicht.«
»Ich plane andere Dinge, Salfalur Schildbrech«, erwiderte der Herrscher der Dritten nachdenklich. Sein in unterschiedlichen Braun-, Rot- und Grautönen schimmernder Bart war durch die Farben so hart geworden, dass er selbst beim Reden steif wie ein Brett am Kinn hing. Die Augen hefteten sich auf die Karte des Geborgenen Landes. »Bislipurs Intrigen waren gut, aber er nahm sich zu viel Zeit. Ich dagegen möchte innerhalb einer Dekade zum Erfolg kommen.« Lorimbas erhob sich von seinem steinernen Sessel und durchschritt das hohe Gemach aus schwarzem Fels, in dem er und sein Kriegsmeister zu beratschlagen pflegten. Katzengold in den finsteren Wänden flimmerte im kleinsten Lichtschimmer und erweckte den Eindruck, als stünden die beiden Zwerge im Nichts, umgeben von goldenen Sternen.
Er ging an den dreieckigen, aus dem Berg geschlagenen Stützpfeilern vorüber, stieg die Stufen zum übergroßen Totenschrein empor, der aus purem Gold bestand, und öffnete die Flügeltüren.
Dahinter verbarg sich der steinerne, aufrecht stehende Sarg des Stammvaters der Dritten, Lorimbur. Seine Gestalt war in den Deckel gemeißelt worden, Edelsteine, Gemmen und Diamanten schrieben Zwergenrunen in den Basalt, priesen die Taten Lorimburs und diktierten seinen Nachfahren das zerstörerische Erbe.
Lorimbas beugte ehrfürchtig das Haupt. »Zu lange leiden wir nun schon unter dem Spott und dem Hohn der anderen«, wisperte er gedankenverloren, und seine Rechte berührte den Deckel. »Zu viele vergebliche Versuche, uns für die dir angetane Schmach zu rächen, sind in den Chroniken zu lesen. Es wird bald ein Ende haben, mein Ahnherr. Die Nachfahren von Goimdil, Giselbart, Borengar und Beroïn werden aus dem Geborgenen Land verschwinden. Ich, Lorimbas Stahlherz aus dem Clan der Steinmalmer, Herrscher über den Stamm der Dritten und dein Nachfolger, werde deinen letzten Willen wahr werden lassen.« Er kniete nieder, zog die Keule mit dem dreikantigen Kopf aus seinem Wehrgehänge und reckte sie dem Sarkophag entgegen. »Das schwöre ich dir erneut und bei meinem Leben.«
Salfalur schloss zu ihm auf, ließ sich ebenfalls auf die Stufen sinken, den zweiköpfigen Hammer mit der Stoßspitze ehrerbietend erhoben. Worte sparte er sich, sein König hatte gesagt, was in seinem Kriegerherzen brannte, und so beschränkte er sich auf den lautlosen Eid im Angesicht des toten Stammvaters.
Stumm beteten sie zu ihm. Die Stunden verflogen, ihre Knie begannen zu schmerzen, und die Muskeln in ihren Armen brannten, doch nichts hätte sie dazu bringen können, ihre Andacht zu unterbrechen.
Schließlich erhob sich Lorimbas, küsste die steinernen Stiefel und verschloss den Schrein wieder. Salfalur stand ebenfalls auf und betrachtete bewegt die gold glänzenden Türen.
Ihr Ahne galt ihnen mehr als Vraccas, der ihn zwar erschaffen, ihm danach aber aufs Übelste mitgespielt hatte, nur weil Lorimbur es gewagt hatte, seine eigene Meinung gegenüber dem Gott zu verteidigen.
Mit zwergischer Ausdauer, die Unwissende Sturheit nennen, hatte er so lange verlangt, einen eigenen Namen tragen zu dürfen, bis Vraccas es ihm erlaubt hatte. Doch als Preis für seinen sturen Mut hatte ihn der Schöpfer aller Zwerge mit dem Fluch belegt, keine der handwerklichen Zwergengaben jemals in solcher Vollkommenheit zu beherrschen wie die anderen Stämme. Diese Verwünschung hatte er an Lorimburs Nachkommen weitergegeben.
Salfalur betrachtete die Gravuren, die ihre Handwerker ins Gold getrieben hatten. Für ihn waren sie schön anzuschauen, aber die Schmiede der Ersten würden über die Arbeit lachen und sie für ebenso unvollkommen wie die eines Menschen halten.
Ihr werdet für eure Überheblichkeit bezahlen, versprach er bitter und rückte die massiven, klingenbewehrten Unterarmschienen zurecht, die ihm bei einem Kampf zusätzlichen Schutz gaben. »Welchen Plan hast du dir ausgedacht, mein König?«, wandte er sich an Lorimbas und ging rückwärts die Treppe hinab, den Kopf vor dem Schrein geneigt.
Der Herrscher folgte ihm. Gemeinsam kehrten sie an den Tisch aus Granit zurück, auf dem die Karte des Geborgenen Landes lag. »Wir werden unseren ersten Pflock zwischen ihnen allen einschlagen«, offenbarte der König seinem Berater sein Vorhaben. Er setzte sich, langte nach dem Krug mit dem dunklen Bier und goss ihnen beiden davon in die silbernen Humpen. Sein rechter Zeigefinger deutete derweil auf das Schwarzjoch. »Es ist die Festung unseres Volkes, und ich will sie wiederhaben. Wir haben ein Anrecht darauf.« Er hob sein Gefäß. »Es ist außerordentlich liebenswürdig gewesen, dass die anderen Stämme sie für uns instand gesetzt haben.« In tiefen Zügen leerte er das Bier und setzte den Humpen hart ab. »Was ist?«, wunderte er sich über das Schweigen seines Kriegsmeisters. »Gefällt mein Plan dir nicht?«
Salfalur machte keinen Hehl daraus, dass er die verborgene Absicht hinter dem Vorhaben des Königs nicht verstand. »Was sollen wir mit dem alten Tafelberg, mein König? Wenn es dir um die Tunnel geht, die haben wir im Schwarzen Gebirge auch.«
Lorimbas lächelte. »Es geht mir durchaus um die Tunnel, da hast du Recht. Ich habe unsere Gelehrten in die Archive unseres Stammes geschickt, nachdem ich von der Wiederentdeckung des Schwarzjochs hörte. Sie haben Aufzeichnungen in unseren Chroniken darüber gefunden, dass die Mauern mehr Geheimnisse in sich bergen, als die drei Stämme bislang entdeckt haben.«
Der Zwerg horchte auf und nahm einen Schluck. »Woher willst du das wissen?«
»Glaub mir, mein alter Krieger, hätten die anderen es ergründet, würde das ganze Geborgene Land davon reden, und wir hätten längst Kunde davon. Eine solche Ungeheuerlichkeit kann kein sprechendes Wesen lange für sich behalten. Unsere Spione haben ihre Ohren überall. Nicht jeder gibt sich eine solche Blöße wie Bislipur.« Er griff neben den Tisch und reichte ihm die zu einem Paket verschnürten Pergamente sowie einen Stapel aus Steintafeln, auf denen weitere Hinweise eingeritzt waren.
Ein Blick genügte dem obersten Feldherrn. Murrend legte er die Aufzeichnungen zurück. »Es ist die Alte Sprache unseres Volkes. Ich beherrsche sie nicht«, erklärte er ungehalten.
Lorimbas nickte zufrieden und schaute den Zwerg an, dessen linkes Auge ständig blutunterlaufen war, wie bei allen aus dem Clan der Blutaugen. »Eben! Genau das hilft uns, das Besondere des Schwarzjochs zu bewahren, bis eine Abordnung von uns dort eingezogen ist. Es gibt wenige, die die Schrift entziffern können.«
»Gut und schön.« Salfalur atmete tief ein und dachte nach. »Doch wie zwingen wir die Stämme, unsere Festung zu räumen? Eine Schlacht darum zu schlagen halte ich für...«
»Nein, Salfalur. Wir verschwenden unsere kostbare Leben nicht für den ersten Pflock. Nicht wir verjagen sie«, lachte sein König böse und lehnte sich in dem Sessel zurück. »Wir lassen es jemanden für uns tun.«
»Wer sollte...«
»König Bruron.«
Die dunklen Augenbrauen des Zwergs schoben sich zusammen. »Du erinnerst mich immer mehr an denjenigen, den du vorhin wegen seines Vorgehens beschimpft hast. Das gefällt mir nicht«, mahnte er ihn. »Erkläre dich mir, wenn du meinen Rat hören willst, mein König.« Seine Hände legten sich um den Griff des gewaltigen Hammers, der beinahe so groß war wie er.