»Eine Zwergin? Ja, ich erinnere mich.« Er deutete aus dem Fenster in Richtung Palast. »Sie befand sich bei einer Gruppe, die erst vor sieben Umläufen in Porista ankam. Ich weiß es, weil ich am Tor vorbeifuhr und zum Markt wollte. Sie ritten wie die Teufel, und wäre ich nicht aus dem Weg gesprungen, sie hätten mich glatt zertreten. Sie sind im Palast verschwunden.«
»Und meine Tochter?«, hakte Furgas ein. »Weißt du etwas über sie?«
Ertil schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand hat den Palast verlassen, Magister Furgas.«
»Es hat auch einen Vorteil«, grummelte Boïndil. »Wir müssen nur einmal laufen, um sie und deine Tochter zu retten. Das erleichtert uns den schnellen Rückzug.«
Boëndal stand am Fenster und spähte hinaus, um nach dem Schauspieler zu sehen. »Es ist menschenleer«, gab er seine Beobachtung weiter. »Rodario wird auffallen wie ein Brandfleck auf einem makellosen Lederhemd, wenn er hierher kommt.«
»Keine Bange«, betonte Furgas. »Er wird es schaffen.«
»Lange können wir nicht auf ihn warten«, bedauerte Tungdil. »Wir müssen ihnen Balyndis entreißen, ehe sie ihr das Geheimnis der Rüstung entlocken.« In seiner Vorstellung sah er, wie sie gefoltert, verstümmelt und gedemütigt wurde.
»Besser, wir gehen gleich. Ich kenne mich im Palast recht gut aus. Doch zuvor solltet ihr eure Scharniere ölen.« Ertil brachte den Zwergen Sonnenblumenöl, und sie brachten die quietschenden Scharniere zum Schweigen, auch wenn Ingrimmsch die Vorgehensweise beanstandete.
Der Magister technicus stand auf und trat zur Tür. Ihr gefährliches Unternehmen konnte beginnen.
Ondori sicherte die Spitze, danach kamen er und die gerüsteten Zwerge. Sie hatten Ertil angewiesen, den Eingang im Auge zu behalten und Rodario, so er denn ankam, abzufangen und bei sich unterzubringen, bis sie auftauchten. Oder gefangen genommen wurden.
Sie huschten mehr oder weniger leise durch das stille Porista.
Furgas konnte seine Besorgnis über das Fehlen von Rodario nicht verbergen. Er müsste schon längst hier sein. Was mag ihm wohl zugestoßen sein?
VII
Das Geborgene Land, Gauragar,
in der Hauptstadt des ehemaligen
Zauberreiches Lios Nudin, Porista,
6234./6235. Sonnenzyklus, Winter
Denk immer daran, es ist keine Probe, und die Wachen haben keine Schwerter mit zurückfedernder Klinge. Rodario gab sich einen Ruck, raffte das Reisig an sich, das er aufs Geratewohl zusammengeklaubt hatte, und marschierte auf das Tor zu, an dem er auf die Entfernung neun gelangweilte Soldaten in schimmernden Rüstungen erkannte. Sie standen um einen Feuerkorb und wärmten sich an den Flammen. Ihre nachlässige Haltung änderte sich kaum, als er sich ihnen näherte.
»Wohin?« Einer von ihnen stellte sich ihm verwehrend in den Weg, die Spitze des Speers deutete auf seinen Magen. »Und woher?«
»Ich kam von da«, antwortete er, deutete aufs freie Feld und verfiel in ein beinahe unverständliches Kauderwelsch, damit sie ihn für einen geistig Minderbemittelten hielten, »und möchte dahin.« Er deutete die Gasse hinab und zeigte dem Mann das dünne Holz. »Hab gesammelt. Für das kleine Feuer im Herd. Damit es Essen bekommt.«
Seine Hoffnung ging auf. »Oh, wir haben den Stadtdeppen gefunden«, rief der Soldat laut. Er packte einen halbverbrannten Scheit, der erloschen war, und legte ihn auf das Bündel. »Da, nimm den auch noch mit. Unser Feuer mag den Klotz nicht.«
Rodario lachte dankbar und einfältig, verneigte sich und ließ dabei wohl berechnet das Holz fallen. Fluchend raffte er es an sich, verlor dabei absichtlich Reisig und sammelte sich auf diese Weise an den lachenden Wächtern vorbei, die sich den Spaß erlaubten und kleine Äste weit in die Gasse hinein schleuderten.
Der Schauspieler tat ihnen den Gefallen und rannte den dickeren Zweigen wie ein Hund dem Knochen hinterher, doch sobald er um die nächste Hausecke bog, hörte er schlagartig auf zu lachen. Das war sehr einfach. Er warf das Holz von sich und verfiel in einen schnellen Schritt. Rennen wollte er nicht, damit würde er ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die er überhaupt nicht gebrauchen konnte.
In den schmalen Straßen kannte er sich bestens aus. Sein Weg führte ihn am Curiosum vorbei, und seine Beine blieben einfach stehen. Wehleidig strich er über die verschlossene Tür und den Anschlag daran, den er sich leise vorlas: »WEGEN GASTSPIEL VORERST GESCHLOSSEN. DER UNGLAUBLICHE RODARIO WIRD ABER BALD ZURÜCKKEHREN UND DEN BEWOHNERN PORISTAS MIT SEINEN STÜCKEN DEN ALLTAG VERSÜSSEN. SEID GESPANNT, SPECTATORES, AUF SO VIEL TALENT UND KÖNNEN.«
»Sehr schade, nicht wahr?«, sagte eine milde Frauenstimme hinter ihm bedauernd. »Ich hätte ihn gern einmal kennen gelernt, diesen Rodario.«
»Er heißt Unglaublicher Rodario«, bestand er auf den vollen Titel und wandte sich um, damit rechnend, vor einer betrunkenen Stadtmatrone zu stehen, die gerade von einem Streifzug aus den Kaschemmen kam.
Aber er wurde überrascht. Er blickte auf eine junge Dame in seinem Alter, die sich mit einem kostspieligen Pelz gegen die Kälte schützte. Eine Kapuze bewahrte ihren Schopf vor dem einsetzenden Schneefall.
»Er soll unglaublich gut sein«, setzte er hinzu und lächelte so einnehmend, wie nur er zu lächeln vermochte.
»Ihr seid eben erst angekommen?«, vermutete sie anhand seiner mitgenommenen Garderobe und den Bartstoppeln in seinem Gesicht. »Ist es nicht eine sehr unbequeme Zeit für lange Wanderungen?«
»Wenn einem das Pferd im Graben verreckt, läuft man gezwungenermaßen, meine Dame«, strickte er den Anfang einer Lügengeschichte, an deren Ende ihre Gunst stehen sollte. »Ich entkam mit knapper Not ein paar Straßenräubern, die mir den Gaul verletzten, woran er krepierte, und meine Satteltaschen mit meinem Hab und Gut stahlen.«
»Lasst mich raten: Ihr seid ein Edelmann, der auf dem Weg zu seiner Liebsten nach Porista war.« Sie strich sich eine brünette Strähne aus dem Gesicht und erwiderte sein Lächeln mit nicht weniger Schelmigkeit in den Augen. »Ich habe Euren Namen nicht verstanden, Herr...?«
Er geriet ins Schwanken. Offenbar durchschaute sie seine kleine Geschichte bereits in den Ansätzen. Ein harter Brocken. Umso besser, eine Herausforderung macht die Angelegenheit spannender.
Ihm entging nicht, dass sie an ihm vorbeischaute. Also blickte auch er dorthin und musste lachen. Ich Idiot. Er hatte vollkommen vergessen, dass sein überlebensgroßes, lächelndes Konterfei neben den Eingang gemalt worden war. Auf sein Drängen. Zu seinem Glück hatten es die Wachen wohl nicht bemerkt.
»Nun verratet Ihr mir, weshalb Ihr mir gegenüber nicht sagen wolltet, wer Ihr wirklich seid?«, bat sie ihn und trat näher an ihn heran. »Weshalb erzählt der Unglaubliche Rodario Lügenmärchen?« Ihre dunkelgrünen Augen musterten ihn verschmitzt.
»Mir war gerade danach«, stürzte er sich in die nächste Ausflucht. »Und da Ihr ohnehin wisst, wer ich bin, verratet mir, wie es sein kann, dass eine hübsche Frau wie Ihr nachts allein und ohne Schutz durch Porista wandelt? Ich kenne Euch nicht, edle Dame, und glaubt mir, ich kenne...«
»Jede Frau in der Stadt?«, lachte sie ihn aus. »Dann wäre eine Bekanntschaft mit Euch äußerst fragwürdig.«
»Nein, nicht jede Frau. Aber ich bin von Andôkai der Stürmischen und ihrer Nachfolgerin Narmora der Unheimlichen als Miterbauer der Stadt bestellt worden. Zusammen mit meinem Compagnon Furgas richten wir wieder auf, was zerstört wurde...« Er folgte ihr mit den Augen, während sie ihn umwanderte; die Schleppe ihres Pelzes glitt durch den Schnee und zog eine Spur. »Da lernt man die Menschen kennen. Aber Euch«, wie von selbst streckte sich seine Hand aus und hielt sie am Arm fest, als sie vor ihm stand und zu einer neuerlichen Umrundung ansetzen wollte, »habe ich noch nie gesehen. Dabei sollten die Steine in den Gassen Eure Schönheit preisen und Mosaiken formen, die Euer Antlitz zeigen.«