»Wisst Ihr denn, wo sie sich derzeit aufhält?«
»Ihr meint ihre Nachfolgerin, Narmora, nehme ich an? Sie ist abgereist, irgendwo nach Norden. Ihre Anweisung lautete, ich solle mich weiter um den Ausbau Poristas kümmern.« Automatisch schlug er den Weg zu Furgas Zimmer ein, was Lirkim dazu veranlasste, ihn am Arm festzuhalten.
»Halt, halt! Wohin wollt Ihr denn? Habt Ihr vergessen, dass ich Eure Führerin bin?«
Rodario lachte verlegen. »Nein, ich war in Gedanken.« Mehrere Gerüstete schritten an ihnen vorbei, sie grüßten Lirkim und schenkten Rodario einen verwunderten Blick.
Er nickte ihnen jovial zu, als handelte es sich bei ihnen um alte Bekannte. Überall entdeckte er die kleinen Stücke Mondstein in ihren Panzern, doch sie glänzten nicht. Offenbar taten sie es nur, wenn es der Träger verlangte.
Er fühlte sich großartig und befand sich kurz davor, übermütig zu werden. Er saß mitten in der Höhle des Orks und war dennoch sicher wie in Palandiells Schoß. Lirkim geleitete ihn in den Trakt der Dienstboten, rief zwei Mägde, die Rodario noch nie gesehen hatte, und wies sie an, sich um ihn zu kümmern.
»Ich lasse ein Essen für uns beide anrichten, in einer Stunde unterhalten wir uns«, verabschiedete sie sich von ihm, zog ihren Handschuh aus und hielt ihm den weißen Handrücken hin.
»Ich freue mich darauf, edle Dame.« Er küsste die weiche Haut und bildete sich ein, Milch und Seide zu schmecken.
Furgas hatte von Anfang an vorgesehen, nicht durch das Haupttor zu gehen, was auch geschickter war. Die Avatare umgaben sich sicherlich mit Wachen, die am Eingang zu finden wären und ihr Eindringen sofort bemerken würden. »Es gibt zwei Nebenpforten, wie mir Narmora erzählte. Sie sind für das bloße Auge unsichtbar, aber ich kenne eine davon. Jedenfalls ungefähr.«
»Ungefähr. Das ist ja reizend«, brummte ein sichtbar unzufriedener Boïndil.
»Ich weiß, ginge es nach dir, wären wir durch das große Tor gestürmt, hätten uns zu Balyndis und Dorsa durchgekämpft und wären wieder gegangen«, sagte sein Bruder tadelnd. »Zügle dich. Wir haben es mit Gegnern zu tun, die über deine Beile lachen.«
Furgas tastete die Mauer ab. »Hier ist es.« Er nannte eine Formel, doch nichts tat sich.
»Bist du dir sicher?« Tungdil fuhr mit den Fingern prüfend über die Steine, fühlte jedoch weder eine Fuge noch eine besonders markante Unebenheit.
Ondori wiederholte die Worte, und die Umrisse einer Tür wurden im Mauerwerk sichtbar.
Ingrimmsch wandte sich zu ihr. »Wie hast du das gemacht, Bohnenstange?«
»Geh«, wies sie ihn gönnerhaft an. »Ihr Unterirdischen versteht nichts von Magie.« Sie schaute zu Furgas. »Und die meisten Menschen auch nicht.«
»Aber du schon, ja?« Boïndil wollte sich keine Anweisungen von einer Albin geben lassen und schon gar nicht in einem gönnerhaften Tonfall.
»Sicher. Jedenfalls mehr als du«, sagte sie achselzuckend. »Was nun? Geh voran oder mir aus dem Weg.«
Boëndal schob seinen Bruder vorwärts, um weitere Diskussionen zu verhindern. Nacheinander betraten sie den kleinen Garten des Palasts, der im Norden des weitläufigen Areals lag. Niemand kümmerte sich um die Eindringlinge.
»Wir müssen schnell sein«, riet die Albin. »Wenn eine Patrouille eure Fußspuren entdeckt, wird sie wissen, dass sich Personen im Palast aufhalten, die keiner eingeladen hat.«
Furgas setzte sich an die Spitze der Gruppe und leitete sie über Umwege durch den vermeintlich leeren Dienstbotentrakt. Plötzlich blieb er vor einer Biegung stehen und drückte sich gegen die Wand; die Zwerge verharrten sofort und vermieden jede Bewegung, um sich nicht durch ihre Rüstungen zu verraten.
Sie hörten die leise Stimme einer Frau, die mit einem fremdartigen Akzent sprach. »Ich lasse ein Essen für uns beide anrichten, in einer Stunde unterhalten wir uns.«
»Ich freue mich darauf, edle Dame«, antwortete ein Mann mit unverwechselbarem Tonfall.
»Der Schwätzer«, entfuhr es Ingrimmsch verdutzt. »Wie hat er das wieder angestellt?«
»Wie wohl?«, grinste Furgas. Eine Tür wurde geschlossen. Er blickte um die Ecke und sah eine Frau in einem weißen Pelzmantel den Gang hinaufwandeln. »Ich schlage vor, wir lassen ihn sein Vorhaben weiter verfolgen.«
»Und er bekommt auch noch was zu essen!«, regte sich Boïndil leise auf.
»Still«, zischte Ondori.
»Von dir lasse ich mir nichts sagen, schwarzäugige Bohnenstange«, grollte er ungerührt zurück. »Wenn wir deine Eltern früher erschlagen hätten, gäbe es dich gar nicht, also sei uns gefälligst dankbar, dass du überhaupt lebst.«
Die Albin beschränkte sich darauf, den Zwerg mit mörderischen Blicken aus ihren grauen Augen zu töten, der aber tat ihr nicht den Gefallen zu sterben. Furgas hob die Hand »Sie ist stehen geblieben«, raunte er seinen Begleitern zu. Die Albin trat neben ihn und hob den Bogen. »Jetzt... geht sie weiter.«
Ondori drückte dem Mann ihren Bogen in die Hand. »Ich werde ihn fragen gehen, was er bezweckt«, erklärte sie und schlich zur Tür, hinter der sie den Schauspieler vermutete. Sie lauschte und öffnete dann leise die Tür.
Rodario saß in einem Zuber, umgeben von duftendem Schaum, und schrubbte sich den Dreck der vergangenen Sonnenumläufe von der Haut. Der Staub Gauragars wurde aus den Poren gespült und verschwand ebenso wie die vereinzelten Tannennadeln, die von ihrer letzten Übernachtung im Freien herrührten. Danach nahm er sich das Rasiermesser, richtete den Spiegel aus und schabte die Stoppeln aus seinen herrschaftlich anmutenden Zügen.
»Und immer, wenn du glaubst, du bist allein, ist es nicht so.« Ondori ergriff seine Hand und hielt sie fest, bevor er sich vor Schreck aus Versehen die Kehle aufschlitzte. »Du hast deinen Weg in den Palast gefunden?«
Erleichtert atmete er aus. »Meine Güte, ihr Albae«, stöhnte er. »Narmora beherrscht diese unselige Schleicherei ebenso.« Sie ließ seine Hand los, er setzte die Rasur fort. »Schön, dass ihr auch drinnen seid. Oder bist du als Einzige hineingelangt?«
»Nein, die anderen warten draußen. Ich bin nur hier, weil ich fragen soll, was du beabsichtigst.«
»Ich?«, antwortete er in großspurigem Tonfall. »Ich mache mich fein und diniere mit einer wunderschönen Frau, die wohl eine hohe Zofe im Gefolge der Avatare ist. Etwas Wein, ein wenig seichte Plauderei mit einer wohl dosierten Prise vorgetäuschter Zuneigung, und ich erfahre alles von ihr, was ich möchte.« Er setzte das Rasiermesser an und fuhr sich damit über die Haut. »Wo das Kind steckt, wo Balyndis ist und welche Geheimnisse die Möchtegerngötter vor uns verbergen.« Er lächelte sich selbst im Spiegel an und prüfte die Sauberkeit seiner Rasur. »Danach rette ich Kind und Zwergin und beschäme den kleinen Haudrauf. Brillant, oder?«
Ondori grinste hinter ihrer Maske. »Das hast du dir eben erst ausgedacht.«
»Nein, es fußt auf einer reiflichen Überlegung«, widersprach er entrüstet. »Und ihr, was macht ihr?«
»Da du alles für uns übernimmst, werden wir wieder gehen.« Die Albin sah auf den Stapel Ausrüstung, der auf einer Bank ruhte. »Nun ohne Flachs. Wir werden uns heimlich umsehen und abwarten, ob wir vor dir ans Ziel gelangen.«
Er fuchtelte mit dem Messer umher und zerschnitt den Schaum. »Ich werde euch retten müssen, warte es ab«, prophezeite er ihr. »Nun hinaus, ehe eine Magd zurückkommt und mich mit dir sieht.« Sie antwortete ihm nicht und als er sich nach ihr umwandte, war sie verschwunden. »Ein kleines Glöcklein am Knöchel, das würde ihr und Narmora gut stehen«, fand er und entfernte die letzten Stoppeln. Dann strich er sich über das Kinnbärtchen und zwinkerte. O ja. Lirkim wird plaudern.
»Sicher, er rettet uns. In seinen wirren Komödien vielleicht.« Boïndil schnaubte. »Was sich dieser Schwätzer einbildet, geht auf keine Ogerhaut.«