»So?« Lirkim legte das Besteck auf den Tellerrand. »Was habt Ihr denn gehört?«
»Dass sie eine Legende sind und alles Land, das sie betreten, in Schutt und...« Er stockte. »Seltsam, denn wenn ich es recht bedenke...«
»Genau, mein lieber Herr Rodario. Porista müsste schon lange in Flammen stehen, wenn es sich so verhielte. Habt Ihr noch mehr Märchen über sie gesammelt? Für ein Theaterstück womöglich?«
»Noch viel mehr.« Er berichtete ihr von dem, was er in der Schlacht vor den Toren Dsôn Balsurs alles gesehen hatte, als wäre es ihm von einem Soldaten erzählt worden, angefangen von den Energien bis zum Glänzen der Rüstungen. Den Tod der Avatare verschwieg er. Lirkim hörte aufmerksam zu, sie schien sich köstlich zu amüsieren. »Und sie sollen eine Zwergin entführt haben, was ich für eine Erfindung halte. Was sollten sie mit einer Unterirdischen?« Er spießte das Fleisch auf und aß es.
»Vieles, was der Soldat Euch berichtete, stimmt«, sagte sie belustigt und nippte am Wein. Schnell prostete er ihr zu und brachte sie dazu, mehr zu trinken. Ihre stark geröteten Wangen verstand er als Zeichen, dass der Alkohol, den er ihr seit einer Stunde einflößte, seine Wirkung tat. »Aber sie verstehen sich auf viele Kniffe, die ein einfacher Verstand nicht eben leicht durchschaut.« Erschrocken legte sie die Hand vor den Mund und machte große Augen. »Was sage ich denn da?«
»Ich werde Euch nicht bei den Avataren melden«, lachte er und täuschte Gleichgültigkeit vor. »Götter können sicherlich manches Trugbild erschaffen, wie das einer Zwergin, auch wenn ich den Sinn nicht verstünde.« Er stand auf und goss nach, sie wehrte sich halbherzig dagegen.
»Kein Trugbild. Sie ist echt. Sie haben die Untergründige mitgenommen, um ihr ein Geheimnis zu entlocken.« Sie kicherte mädchenhaft. »Sie sind zäh, diese kleinen Felspuler.«
»Und nun erfahren sie, wie man Blei zu Gold macht? Sind Avatare auf derart Irdisches angewiesen?«, lachte er, als machte er einen Scherz.
»Ach, was sollten sie mit Gold?« Klirrend stieß sie ihr Glas gegen das von Rodario. »Sie kennt eine Rezeptur, um ein besonderes Metall... Was sollʹs. Sie brauchen es ohnehin bald nicht mehr.« Ihre Lider wurden schwer, ihre freie Hand tastete nach seinem Oberschenkel. »Sagt, Herr Rodario, wollten wir beide nicht...«
»Sicher, werden wir auch«, sagte er rasch. »Ich wunderte mich eben noch über das Verhör, das wohl doch nicht mehr so wichtig ist.«
»Ist es auch nicht.« Sie stand auf und schlang die Arme um seinen Hals. »Sie haben bald so viel Macht, dass sie sich alles nehmen, was sie möchten, und selbst die Götter herausfordern können. Ein jeder von ihnen wird über ein riesiges Reich gebieten und sich zu einem Herrscher aufschwingen, wie es noch keinen vor ihnen gab. Das Wort Kaiser vermag ihre Macht nicht zu fassen. Und das Geborgene Land soll...«, sie biss sich auf die Lippen, eine sehr anzügliche Geste, wie der Schauspieler fand, »jetzt nicht mehr unsere Sorge sein.«
Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, der Zofe nach Strich und Faden zu beweisen, wie sehr er ein Mann war, doch die Neuigkeiten aus ihrem Mund wirkten sich auf seine Lust aus wie ein Eimer Eis in seiner Unterwäsche oder das Erscheinen eines gehörnten Ehemanns im Schlafzimmer: Sie verging schlagartig.
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen.
Ich hätte nicht an den Ehemann denken sollen. Rodario erkannte an dem Geräusch, das er schon oft in seinem Leben vernommen hatte, dass der Besucher wütend war, wie man es von einem betrogenen Gatten erwarten durfte.
Herein stürmte ein hellhaariger Mann um die dreißig Umläufe, er trug eine weiße Robe und einen unterarmlangen Stab, dessen Ende gekrümmt war. Mit ihm betraten drei Gerüstete den Raum und beendeten die Zweisamkeit von Rodario und Lirkim. Einige der Gesichter hatte Rodario vorhin auf dem Gang gesehen.
»Bist du verheiratet, Lirkim?«, flüsterte er ihr zu, sie schüttelte den Kopf und war genauso erstaunt über die Störung wie er. »Dann haben die Avatare wohl doch etwas dagegen, dass wir...«
»Das ist er, Fascou! Ich bin mir sicher«, rief einer der Soldaten und deutete mit seinem Schwert auf Rodario.
»Lirkim, geh weg von ihm«, befahl der Mann in der Robe und sah dabei sehr aufmerksam aus.
Stattdessen stellte sie sich vor ihn. »Nein, Fascou, du wirst ihm nichts tun. Verschwinde und vergnüge dich mit der Untergründigen oder pfusche zusammen mit den anderen noch mehr an der Quelle herum, aber wage es nicht, ihn anzufassen. Er gehört mir! Ich möchte auch meinen Spaß.«
»Du bist angetrunken, Lirkim«, redete er beschwichtigend auf sie ein. »Du beschützt einen unserer ärgsten Widersacher. Es ist Rodario...«
»Der Unglaubliche Rodario«, korrigierte sie ihn weinstörrisch. »Ich weiß, er betreibt das Curiosum in der...«
Der Mann machte einen Schritt nach vorn und hob den Arm, die Finger waren anbietend ausgestreckt. »Nein, er heißt Rodario der Unglaubliche und ist der Famulus von Narmora.«
Der Soldat nickte. »Ich habe auf der Flanke gekämpft, die er verteidigt hat. Seine Hände spieen Feuer, und wo seine Hand hindeutete, schmolzen meine Männer wie Butter in der Sonne.«
Rodario konnte es kaum glauben. Wie sehr hatte er sich stets gewünscht, berühmt zu sein, weit über die Grenzen seiner Wirkungsstätte hinaus, und jetzt, da sich sein Traum erfüllte, brachte er ihn an den Rand des Todes.
Gut, spiele ich ihnen eben den Famulus von Narmora. Er streckte sich, eine Hand richtete sich auf den Mann in der Robe, mit der anderen packte er die Kehle der überraschten Lirkim, danach gab er sein schurkischstes Gelächter zum Besten. »Ja, ich bin ein Magus«, rief er bühnengerecht. »Bleibt, wo ihr seid! Ich werde nicht zögern, der Zofe ihren...«
Schneller als eine Kerze im Sturm erlosch, entstand unmittelbar vor ihm ein grelles Weiß, das ihn blendete und ihn nichts als Helligkeit sehen ließ. Lirkim hatte sich in eine gleißende Sonne verwandelt, und die Hitze folgte dem Licht unmittelbar nach.
Furgas leitete die Gruppe sicher durch die dunklen Gänge des Palasts. Schließlich hielten sie vor den Türen der Kuppelhalle. Sie standen weit offen, die Avatare fürchteten wohl nicht, dass die Zwergin entkam.
»Es könnte auch eine Falle sein«, warnte Boëndal, und schon stahl sich Ondori hinein, um die Lage zu sondieren, und kehrte gleich darauf zurück.
»Nichts. Außer einer angeketteten Unterirdischen«, meinte sie lakonisch und ließ den Zwergen den Vortritt.
Sie erkannten sofort, warum niemand vor der Tür Wache stand.
Balyndis lag mitten im Raum auf dem Boden, die Unterarme und -Schenkel waren ihr gebrochen worden, die Knochen standen teilweise aus dem Fleisch heraus, getrocknetes Blut und Eiter klebten auf ihrer Haut. Ihr freier Oberkörper war übersät mit Brandmalen und Schnitten, die ein ungeordnetes Muster ergaben, ihre langen, braunen Haare lagen büschelweise ausgerissen rund um sie verteilt. In den Marmor geschlagene Eisenschellen an den Hand- und Fußgelenken verbanden sie fest mit dem Boden der Halle.
Tungdil stiegen bei dem furchtbaren Anblick die Tränen in die Augen. Was haben sie dir angetan? Sofort kniete er sich neben sie, fühlte ihre heiße Stirn. Wundfieber. Er hob die Axt und sprengte die Schellen. Sie bekam weder die Schläge mit noch den Lärm, der dabei entstand; ihre Lider blieben geschlossen.
»Niemand darf eine Zwergin so behandeln«, knurrte Ingrimmsch, sein Blick wurde starr und verkündete den nahenden Kampfrausch, der dieses Mal durch den Anblick der misshandelten Schmiedin ausgelöst wurde. »Vraccas, sende mir einen von diesen falschen Zauberern, und ich reiße ihn mit meinen Händen auseinander wie einen Laib Brot!«
Boëndal reichte Tungdil seinen Mantel, um die Blöße der Zwergin damit zu bedecken. »Ich hoffe, wir haben später nur die äußeren Wunden zu versorgen«, sagte er leise.