Derweil sollten ein anderer Teil des Heeres, Narmora und Rodario an zwei Stellen Scheinangriffe führen, um die Avatare annehmen zu lassen, die Zwerge gingen mit herkömmlichen Methoden an die Einnahme der Stadt heran.
»Wir konzentrieren den Beschuss auf die Tortürme sowie die Wehrgänge der Mauern«, schlug Furgas vor. »Damit halten wir die Opfer unter der Bevölkerung gering. Die Menschen haben schon genug unter der Anwesenheit der Fremden gelitten und werden es bei den bevorstehenden Kämpfen in den Straßen auch noch tun.«
Die Verbündeten waren sich einig.
Mit dem siebten Umlauf brach der große Tag an, der über das Schicksal des Geborgenen Landes entscheiden sollte.
Die Sonne tat sich schwer, durch die diesigen Wolken zu dringen. Es blieb dunstig grau ohne neuen Schneefall, aber mit den bekannten Nebelschleiern.
Tungdil verabschiedete sich von Balyndis, die wegen ihres Zustandes zurückblieb, mit einer langen, freundschaftlichen Umarmung. Selbst einem aufmerksamen Beobachter offenbarte sich erst auf den zweiten Blick die Tiefe ihrer wahren Gefühle.
»Wir sehen uns wieder«, versprach er ihr und sog tief ihren Geruch in sich ein. »Spätestens in der Ewigen Esse bei Vraccas.«
Sie schluckte schwer. »Der Göttliche Schmied wird dich beschützen. Du warst einmal ein Held, und du wirst wieder einer sein.«
»Das ist so sicher wie der Tod der Avatare«, meldete sich Ingrimmsch schmunzelnd zu Wort. »Er hat ja uns dabei, nicht wahr, Gelehrter?« Er und Boëndal reichten ihr die Hand, dann schlossen sie zu dem finsteren Heer aus Dritten und Albae auf.
»Sie passen fein zueinander«, stellte Ingrimmsch fest, als er sie angewidert betrachtete. »Schwarz sind ihre Seelen, schwarz wie die Tätowierungen der einen und die Rüstungen der anderen. Ich danke dir, Vraccas, dass es niemals ein Bündnis zwischen den beiden gegen uns gegeben hat.«
Einer nach dem anderen rutschte in den engen Tunnel hinab und kroch auf Händen und Knien vorwärts, was aufgrund der Rüstungen, die sie trugen, kein Vergnügen war. Mehr als einmal blieben sie an einer Wurzel hängen und schaufelten sich Dreck und kalte Erde unter die Lederkleidung.
Bald spürten sie die sanften Erschütterungen, die ihnen zeigten, dass die Belagerungsmaschinen ihre Arbeit aufgenommen hatten und die Soldaten der Avatare mit Steinen und Baumstücken bewarfen.
Jedes Zittern der Erde bedeutete einen Einschlag; lose Erde und größere Brocken lösten sich an der behelfsmäßig abgestützten Decke ihres niedrigen Schachtes. Auf Dauer würde er unter dem Beschuss einbrechen, auch ohne einen unmittelbaren Treffer abzubekommen.
Tungdil und die Zwillinge robbten ungerührt weiter, es nutzte ihnen nichts, wenn sie Angst verspürten, die ihre klaren Gedanken lähmte.
Schließlich gelangten sie in den Kanal, der sich bereits mit Albae und den Dritten gefüllt hatte.
»Ho, nun trägt er doch Abschaum in sich«, witzelte Ingrimmsch.
»Aber erst, seitdem du hier bist«, erwiderte einer der Dritten und bleckte die Zähne. »Seitdem stinkt es auch nach vollen Hosen.«
Boïndil wollte sich auf den Zwerg stürzen, aber Tungdil schob sich dazwischen. »Richte deinen Zorn gegen die Avatare, nicht gegen die, mit denen wir Seite an Seite kämpfen«, maßregelte er ihn. »Außerdem hast du damit angefangen, also wundere dich nicht. Wie man in einen Stollen hineinruft, so schallt es heraus.«
Fluchend ließ Ingrimmsch von seinem Vorhaben ab. »Von mir aus. Aber nur, weil ich gute Laune habe.«
Sie warteten, bis sich der Kanal mit Kriegern gefüllt hatte, erst dann gab Tungdil das Zeichen, die Klappe zu entfernen.
Es gelang ohne Schwierigkeit. Die Avatare nahmen nicht an, dass ihre Feinde ein zweites Mal den Weg wählten, den sie schon einmal benutzt hatten.
Die Albae machten den Anfang, fünfzig von ihnen glitten wie Schatten hinaus in die Gassen Poristas und sicherten die Umgebung. Kurz danach hörten sie einen leisen Pfiff.
Daraufhin setzen sich die Dritten in Bewegung, traten an die Oberfläche, verteilten sich auf dem Marktplatz und strömten dann auf den Palast zu, um jedes Hindernis, das sich mit Beilen, Morgensternen und Keulen aus dem Weg schaffen ließ, zu beseitigen.
Tungdil und die Zwillinge folgten ihnen.
Furgas beobachtete die Bahnen der Geschosse genau und korrigierte nach jedem Einsatz den Winkel der Justierung an den Maschinen, bis die Felsbrocken und Holzklötze dort niedergingen, wo er sie haben wollte. Der Nebel erschwerte ihm die Sicht, machte es ihm aber nicht unmöglich.
Sie verschonten die Häuser der Bewohner und krachten stattdessen in die Wachtürme, zerschmetterten Teile der Tore und rissen Lücken hinein, sie zerstörten Teile der Wehrgänge oder entvölkerten sie.
Die Gegner hatten nichts Derartiges zur Erwiderung zu bieten. Regelrecht hilflos mussten sie abwarten, bis der tödliche Regen endete und der eigentliche Sturm begann, bei dem sie endlich Mann gegen Mann kämpfen konnten.
»Die Avatare halten sich zurück.« Balyndis hatte sich nicht abbringen lassen, das Gefecht wenigstens von den in sicherer Entfernung befindlichen Maschinen aus zu verfolgen.
Furgas nickte erleichtert und gab das Zeichen für die nächste Salve.
Seile wurden gekappt, die Gegengewichte an den hölzernen Wurfarmen senkten sich ruckartig ab und beschleunigten die Steine auf der anderen Seite, die in hohem Bogen durch die Luft flogen. Ihr Ziel war es, das Dach der Wachtürme zu brechen und die Krieger, die darin Schutz suchten, zu erschlagen.
»Ich wundere mich die ganze Zeit über, dass sie Lirkim mit ihrer Zaubermacht vernichtet haben, es aber nicht für nötig erachten, ihren Leuten beizustehen.«
Die zeitaufwändige Nachladeprozedur, für die Muskelkraft benötigt wurde, begann, und Furgas war sich nicht zu schade, selbst mit Hand anzulegen und eine Winde zu bedienen. »Nicht, dass ich die Avatare auf dumme Ideen bringen möchte, aber diese Schleudern sind unverfehlbare Ziele.«
Die Zwergin schaute zu der 250 Schritt entfernten Mauer, in der sich ein sichtbarer Riss gebildet hatte. »Ich weiß, Furgas. Das bedeutet doch, dass sie sich mit für sie Wichtigerem als einer Schlacht beschäftigen.«
»Du denkst, sie sind gerade dabei, die Quelle zu ihren Gunsten zu manipulieren?« Er richtete den Blick auf die Häuserspitze, welche die Mauer an einigen Stellen überragte, doch der Dunst wollte sich noch immer nicht lichten. Weiter als bis zum Bollwerk Poristas sah er nicht. »Geh und sag es Xamtys, Gemmil und Narmora«, bat er Balyndis. »Sie soll entscheiden, wann wir den Angriff beginnen.«
Ein grün leuchtender Brandpfeil stieg hinter den Mauern Poristas auf und schimmerte sichtbar durch den Nebel. Die durch den Kanal eingedrungenen Albae gaben das verabredete Zeichen, dass sie mit dem Angriff auf die Verteidiger begannen. »Beschuss der Wehrgänge einstellen«, schrie Furgas. »Nur noch die Tore attackieren.«
Die Zwerge aus dem Stamm der Freien und Ersten, die sich mit den Schneebinden vor den Augen gegen das helle Licht der Rüstungen schützten, nahmen auf Geheiß ihrer Anführer die Sturmleitern auf und trabten auf die Mauern zu, um die Soldaten der Avatare in einen Zweifrontenkrieg zu stürzen.
Gleichzeitig begann auch der Sturm auf der anderen Seite der Stadt, wo Lorimbas und seine Dritten zusammen mit Rodario den Scheinangriff durchführten, um die Verteidiger noch mehr zu verunsichern.
Furgas betrachtete staunend die Masse an Zwergen, die sich auf Porista zubewegte. Sollte den falschen Avataren nicht ein echter Gott zu Hilfe kommen, würden sie diese Schlacht verlieren und damit für immer ausgespielt haben.
Er entdeckte die hoch gewachsene Gestalt Narmoras zwischen den Zwergen, sie trug ihre Rüstung und darüber einen tiefroten Umhang. Auch wenn sie dich nicht verehrt, Palandiell, so schütze sie, betete er voller Sorge. Sie hat es verdient.