»Es gibt keine Dritten mehr«, hechelte er und lehnte sich schnaufend gegen die Mauer. »Sie wurden in einer mörderischen Schlacht aufgerieben. Die Soldaten hatten mehrere Hinterhalte gelegt, in die wir gelaufen sind, und Narmora kam nicht zur Unterstützung, obwohl ich sie darum gebeten hatte. Mir wurde gesagt, sie sei auf dem Weg in den Palast, und da bin ich nachschauen gegangen.« Er nahm seinen weiten Ärmel, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen, und blinzelte mehrmals. »Xamtys lässt ausrichten, dass sie die Feinde auf ihrer Seite in Schach halten, aber es wird sich bald ändern, wenn die Soldaten von der Nordseite dazustoßen.« Er schaute die Zwerge ungewohnt ernsthaft an. »Ich bin mir sicher, dass Narmora versuchen wird, den Eoîl zu vernichten, um ihnen den Anführer zu rauben. Wenn es ihr nicht gelingt, werden Balendilín, Glaïmbar und Gandogar bei ihrem Eintreffen nur noch unsere Leichen beweinen können.«
»Es ist also wieder alles offen.« Tungdil schaute den Gang entlang. »Kannst du uns zu dem zweithöchsten der Türme führen? Wir denken, dass der Eoîl und der letzte Avatar sich dort verbergen.«
Rodario grinste. »Sicherlich. Da wollte ich auch hin. Mitten in der Gefahr ist man meistens am sichersten. Deshalb verstecke ich mich so gern in Schlafgemächern meiner Liebschaften. Die Gefahr beginnt erst auf dem Weg nach draußen.« Er hob den Arm und deutete auf die breite Tür hinter ihnen. »Ihr seid daran vorbeigelaufen, Freunde. Er steht übrigens genau über der Quelle.«
Sie liefen zurück, die Dritten öffneten die Tür und sprangen sofort zur Seite. »Eine Bestie«, rief einer von ihnen Tungdil zu. »Sie haben eine Bestie beschworen, um den Aufgang zu sichern!«
Mit einem krächzenden Schrei durchbrach ein gewaltiger Körper die Tür und riss den hölzernen Rahmen aus seiner Verankerung. Die Marmorplatten an den Wänden rings um den Eingang des Turmes barsten, und aus der wallenden weißen Wolke schälten sich die Umrisse einer Kreatur, die ein wahnsinniger Magus erschaffen haben musste.
Sie ragte hinauf bis zur sechs Schritt hohen Arkadendecke, lief auf vier Beinen und hatte einen humanoiden Körper, auf dessen Rücken sich ein Paar gigantischer weißer Vogelschwingen entfaltete. Ihre vier langen Arme erlaubten ihr, Feinde selbst auf große Entfernung hinweg anzugreifen. Waffen trug sie keine; sie benötigte weder Schwert noch Axt, denn ihre klauenartigen Hände besaßen Krallen, die geschärft und so lang wie ein halber Zwerg waren.
»Dergleichen habe ich ja noch nie gesehen!«, stammelte Rodario, auf die lange, zahnbewehrte Schnauze des Wesens starrend, und wich zurück. »Kein Zweifel, hier sind die Qualitäten von Kriegern gefragt.«
»Und, Gelehrter?«, raunte Ingrimmsch Tungdil zu. »Was ist das für ein Ding? Wo ist seine verwundbarste Stelle?«
Die pupillenlosen blauen Augen im echsenhaften Schädel richteten sich auf die Zwerge zu ihren Füßen, eine gespaltene, indigofarbene Zunge streckte sich ihnen entgegen.
Tungdil konnte sich nicht entsinnen, in den Büchern seines Ziehvaters jemals etwas über eine derartige Kreatur gelesen zu haben. »Sie muss aus dem Jenseitigen Land stammen«, gestand er sein Nichtwissen ein. »Mehr weiß ich nicht zu sagen.«
Die Kreatur schlug kräftig mit den Flügeln, soweit es der Gang erlaubte. Der Wind riss heftig an ihnen, sie mussten die Schilde loslassen, weil sie die Zwerge umzudrücken drohten; Rodario wurde von den Böen überrascht und fiel zu Boden.
Nach diesem ersten, harmlosen Vorgeschmack auf ihre Kraft griff die Bestie an.
Zwei der langen Arme stießen blitzartig zu und packten die Köpfe zweier Krieger, deren Schädel und Helme wie Eierschalen in der Umklammerung brachen; zuckend fielen sie auf den Boden, während das Wesen ein befriedigtes Fauchen von sich gab.
Die Dritten verlangten danach, ihre gefallenen Krieger zu rächen, und setzten dem Wesen von mehreren Seiten gleichzeitig zu, aber es zeigte sich, dass die Krallen nicht nur scharf, sondern auch sehr beständig waren. Sie hielten dem Schlag einer Axt stand und erlaubten es der Kreatur, die Schläge abzuwehren, ohne Schaden davonzutragen.
»Wir warten, bis es genügend abgelenkt ist, und laufen an ihm vorüber«, entschied Tungdil. Der Kampf gegen das Wesen, das ihnen die Avatare auf den Hals gehetzt hatten, dauerte ihm zu lange. Er wollte den Feinden keinerlei Aufschub gewähren.
»Wie? Diese Herausforderung soll mir entgegen?« Boïndil konnte sich und sein heißes Temperament schwerlich zurückhalten.
»Der Kampf mit dem Eoîl wird dich dafür entschädigen.« Er rief Rodario zu sich und mahnte ihn, sich bereit zu halten. »Du wirst uns begleiten, die Dritten sollen sich mit dem Vieh herumschlagen. Uns fehlt dazu die Zeit.«
»Ich habe verstanden. Ich bin einmal mehr die Ablenkung. Seiʹs drum. Einer muss es ja tun.« Rodario klopfte sich den Dreck von seiner Robe und sprintete im nächsten Augenblick schon hinter den beiden Zwergen her, die eine Lücke zwischen dem titanischen Wächter und der beschädigten Tür entdeckt hatten.
Eine Kralle fuhr knapp an seinem Kopf vorbei, er duckte sich und überholte die Zwerge sogar kurz vor dem Durchgang in den Turm.
Aber das Wesen besaß genügend Schläue, um ihnen die Flucht zu erschweren. Es flatterte mit den Schwingen, der Wind verfing sich in der Robe des Schauspielers und trieb ihn rückwärts, geradewegs gegen Tungdil und Boïndil. Derart behindert sahen sie die eigentliche Attacke nicht kommen.
Der rechte untere Arm schnellte heran, die Hand mit den Krallen streifte Tungdils gepanzerte Schulter, wo sie fünf breite Kratzer hinterließ, danach bewegte sie sich mit unverminderter Wucht weiter und drosch auf Höhe des Schlüsselbeins gegen Ingrimmschs Harnisch. Einer der Nägel durchstieß das Metall; der Zwerg schrie voller Qualen und Wut auf, doch er besaß so viel Abgebrühtheit, dass er mit dem Krähenschnabel zuschlug. Der Sporn kappte das Klauenstück, das aus seiner Rüstung ragte.
»So leicht bin ich nicht kleinzukriegenn«, spuckte er dem Wesen vor die Füße. »Erst töte ich deinen Herrn, und dann komme ich zurück und stutze dir die Fittiche.«
Rodario und Tungdil zerrten ihn weiter und gelangten tatsächlich an den Fuß der breiten Treppe, die zur Spitze des Turmes führte.
Sie liefen einige Stufen hinauf, bis die Stiegen schmaler wurden und ihnen die Kreatur nicht folgen konnte, dann begutachtete Tungdil den geborstenen Nagel, der ein zwei Finger dickes Loch in Boïndils Schutz gebohrt hatte.
»Du blutest zu stark, wenn ich ihn aus der Wunde ziehe«, befand er. »Es wäre besser, wenn wir ihn drinlassen.«
»Es geht«, knirschte Ingrimmsch. »Es sind keine furchtbaren Schmerzen, die ich spüre. Das Leder hat verhindert, dass der Nagel sehr tief eindrang. Mehr als eine Fingerkuppe tief wird es nicht sein.« Er lächelte verzerrt. »Nur draufschlagen sollte niemand.« Er blickte skeptisch auf die gewundenen Trittsteine, die sich höher und höher schraubten und deren Überwindung selbst ohne Verwundung eine Herausforderung für die Gerüsteten bedeutete. »Das wird anstrengend.« Er setzte den Fuß auf die nächste Stufe und machte sich zusammen mit seinen beiden Begleitern an den beschwerlichen Aufstieg.
Der Turm war eine bauliche Meisterleistung.
Die Stiegen ragten direkt aus den Seitenwänden und endeten nach vier Schritten Breite; ein Mittelpfeiler existierte in dem runden, zehn Schritt im Durchmesser breiten Gebäude nicht, sodass in der Mitte des Turms ein durchgehendes Loch von zwei Schritt Breite blieb. Wer hier fehltrat, stürzte tief und lang. Trübes Tageslicht fiel in einem satten Strahl von oben herab und sorgte dafür, dass sie die Stufen gut sahen.
Rodario bemerkte unterwegs ein fingerdickes Seil, das in dem Schacht herabbaumelte und von der Spitze zu kommen schien. Welchen Zweck es erfüllte, blieb ihm schleierhaft, er hielt es auch nicht für so wichtig, dass er die Zwerge darauf aufmerksam machte. Es wird zu einem Gong oder etwas Ähnlichem gehören, den man von unten damit bedienen kann.