Ondoris schwarze Augen wandelten sich, sie wurden zu reiner Helligkeit, während sich ihre Züge vor Grauen verzerrten. »Tion, ich flehe...« Ein silbrig weißes Schimmern drang aus jeder einzelnen Pore.
Tungdil konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden, das darin gipfelte, dass sich schwarzer Dunst aus der Albin löste und nach oben schwebte. Von ihr ging plötzlich eine immense Hitze aus, sie öffnete den Mund zu einem tierhaften Schrei und zerfiel mit allem, was sie an sich trug und in den Händen hielt, zu Asche, die vom Winterwind davongewirbelt wurde.
Nun gewahrte Tungdil Narmora. Sie stand schwankend und kreischte gellend, während das Leuchten aus ihrem Brustkorb austrat. Bleiche Flammen schlugen daraus hervor, als bestünde sie in ihrem Innern aus Stroh. Sie verstummte und stürzte auf den Boden der Balustrade, während sie weiterbrannte.
Der Zwerg wandte erschüttert die Augen ab, ihr war mit irdischen Kräften nicht mehr zu helfen. Von den Unauslöschlichen und ihren Rüstungen entdeckte er nichts mehr. Hat der Eoîl die Wahrheit gesagt? Er zog sich an der Brüstung auf die Beine und lehnte sich auf die Begrenzung, um zu sehen, was in Porista geschah.
Aus den Energien des Sterns hatte sich unmittelbar nach der Detonation eine strahlenden Halbkugel geformt, die sich wie eine Glocke um die Palastanlage stülpte, sich gleichmäßig nach allen Seiten ausdehnte und dabei immer mehr Geschwindigkeit aufnahm. Sie durchdrang alles, wanderte durch Häuser und Tempel; Stein war ihr dabei ebenso wenig ein Hindernis wie Holz oder die Körper der Kreaturen.
Die Kämpfe in den Gassen und an den Toren hatten aufgehört. Alle Augen richteten sich auf die heranschießende Wand aus Licht.
Die ersten Albae wurden von ihr erfasst, durchdrungen und aufgelöst wie Ondori. Immer mehr von dem schwarzen Hauch stieg auf und sammelte sich um den Fahnenmast, wo der Eoîl den Stein in der kristallenen Fassung in die Höhe gezogen hatte. Die Schwaden kreisten anmutig um sich selbst, bildeten Schlieren und formten Nebelgespinste.
Die Albae, die sich noch vor den Toren der Stadt befanden, machten auf der Stelle kehrt und rannten in Todesangst davon; andere gaben ihren Nachtmahren die Sporen, um dem gnadenlosen Licht zu entkommen.
Doch nichts diente ihnen mehr als Schutz.
Tungdil sah, dass jeder Einzelne in der Reinheit verging und sich das Böse aus ihm löste, während die leuchtende Glocke sich weiter ausdehnte, bis ihre äußeren Ränder zu einem schwachen Schimmern am Horizont geworden waren. Von allen Seiten waberte schwarzer Dunst auf Porista zu, um sich über seinem Kopf zu sammeln.
Dann spürte er die Schläge, die durch den Turm liefen. Die Erde schüttelte sich erneut.
Der Zwerg richtete seine Aufmerksamkeit auf die Balustrade. Er sah Narmora zur Hälfte verkohlt auf dem Stein liegen, vor ihrem ausgebranntem Brustkorb lag ein grüner Edelstein. Also doch!
»Magie sollte verboten werden.« Rodario kam nach seinem Zusammenprall mit der Mauer und dem harten Boden wieder zu sich. Als er sich aufrichtete, entdeckte er Narmoras Leichnam und erschrak. »Bei Palandiell! Er... hat sie getötet!«
»Nein, das Böse in ihr hat sie getötet.«
Der Eoîl stand neben der Turmwand, seine Linke ließ den Drahtstummel los, der aus dem Mauerwerk ragte. Das Leuchten um das Wesen herum hatte aufgehört.
Nun offenbarte sich ihnen eine hoch gewachsene Frau mit langen, blonden Haaren, deren Gesicht zu schmal und zu hübsch für einen Menschen war. Sie hatte den schlanken Leib in eine weiße, makellose Robe gehüllt, ihre Linke hielt ein Schwert, an dem das dunkle Blut der Unauslöschlichen haftete. Kaum merklich standen die Spitzen ihrer Ohren aus den Haaren hervor.
»Ich erweckte den Stern der Prüfung.« Sie verneigte sich leicht vor Rodario und Tungdil. »Ihr habt vor ihm bestanden und nichts mehr von mir zu befürchten.« Ihre blauen Augen richteten sich auf die schwarze Wolke. »Das ist die Essenz des Schlechten, die sich bald in Gutes wandeln wird.« Sie lächelte versonnen.
Rodario stemmte sich in die Höhe, schaute zu Tungdil und versuchte zu erkunden, was sie als Nächstes gegen ihre Gegenspielerin unternehmen sollten. »Ihr seid... eine Elbin?«
»Ich bin eine Eoîl, unbefleckt, rein und höher als das minderwertige Blut der Elben«, lautete die herablassende Antwort. »Keiner von ihnen vermag es, an mich heranzuragen, denn ich bin von den Händen Sitalias berührt.«
»Gib der Quelle ihre Kraft zurück«, verlangte Tungdil unbeeindruckt. Die Schmerzen traten in den Hintergrund, Vraccas schenkte ihm neue Zuversicht, denn nun sah er eine greifbare Gegnerin vor sich: eine überhebliche Spitzohrin, die sich für etwas Besseres hielt und in ihrer Anmaßung unsägliches Leid über das Geborgene Land bringen würde. Dieser Hochmut passte zu ihrer Abstammung. »Tue es, bevor etwas Schlimmeres als nur ein schwaches Beben geschieht.«
Sie schüttelte den Kopf, die blonden Haare bewegten sich wie seidene Fäden. »Sie ist versiegt. Der Stern der Prüfung hat ihre Kraft verbraucht.« Ihr rechter Arm hob sich und deutete nach oben. Schwarze Schleier flogen aus allen Himmelsrichtungen auf die Stadt zu und verwandelten den trüben Winternachmittag in tiefste Nacht. »Das ist sein Werk.«
Die Oger aus Borwôl aus dem Nordosten Urgons, die Orks aus Toboribor aus dem Süden Idoslâns, die verbliebenen Albae aus Dsôn Balsur, die scheußlichsten Bestien, die in den hintersten Winkeln des Geborgenen Landes hausten, waren von dem Stern der Prüfung ausgetilgt worden. Von ihnen blieb nichts als das Böse ihrer Seelen, das nach Porista strömte.
Die ersten der unheimlichen Gespinste senkten sich herab, berührten die gläserne Fassung um den Edelstein. Sie leuchtete auf und sog die Schwaden an. Schlagartig erstrahlte der Diamant wie ein erblühendes Gestirn am Firmament. Die Umwandlung hatte begonnen.
Rodario humpelte an Tungdils Seite, selbst er hatte seine Heiterkeit eingebüßt. Narmoras Tod ging ihm sehr nahe, auch wenn er um ihre Taten wusste. »Was tun wir?«
Der Zwerg erinnerte sich. »Erinnerst du dich, was Lirkim sagte, als wir sie gefangen haben? Über ihre Zauberkunst?«, raunte er dem Schauspieler zu, der soeben Ondoris Kampfstab aufhob, um ihm zum Schein als Stütze zu gebrauchen.
»Sie sagte, dass die Energie für ihre Zauber in ihren Schmuckstücken gebündelt sei.«
Tungdil betrachtete die Eoîl, die zwei Ringe an den Fingern und ein Amulett um den dünnen Hals trug. »Ich frage mich, ob sie im Stande ist zu zaubern oder«, seine Augen wanderten zum Fahnenmast, »sie erst wieder über Macht verfügt, wenn der Stein sich aufgeladen hat.« Er nahm die Beinschiene ab und verband notdürftig seine Oberschenkelwunde. Es sollte den Eindruck erwecken, als hätten sie ihren Widerstand aufgegeben und sich mit den neuen Gegebenheiten abgefunden. »Wir warten, bis der Stein das Böse in sich aufgenommen hat. Ich möchte nicht, dass es durch unsere Schuld frei bleibt.« Er zurrte das Stück Stoff fest über dem Schnitt zusammen. »Wenn sie ihn holen will, greifen wir sie an.«
Ein neuerliches Zittern lief durch den Turm, die Steine ächzten unter der Belastung.
»Und dann?«, wollte Rodario wissen.
»Werden wir sehen, ob sie zaubern kann.«
»Nein, danach. Ich gehe davon aus, dass wir siegen«, grinste er schwach.
»Werfen wir den Stein in die Öffnung der Quelle, wenn es so etwas gibt, und warten, was sich tut.« Seine braunen Augen blickten voller Entschlossenheit. »Eine andere Lösung fällt mir nicht ein. Die Elbin wird ihre Macht nicht freiwillig abgeben, und eine einzige Kreatur allein darf nicht diese Stärke erlangen, die ihr der Stein geben wird. Wer könnte sie aufhalten, wenn sie ihren ohnehin angegriffenen Verstand vollends verliert?«
Rodarios Hände krampften sich um den Speer. »Keine Pülverchen mehr, keine Fläschchen, kein Lug und kein Betrug.« Er deutete auf seine leeren Taschen. »So soll es kommen, dass ich mich als echter Krieger bewähren muss. Wer hätte das gedacht?«