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»Ich hätte zu gern deine Füße gesehen, wenn wir die vielen Meilen gelaufen und nicht geritten wären«, antwortete ihm Tungdil grinsend, während er abstieg und das Pony zwischen den Ohren kraulte. Auch auf ihm lag eine dünne Schicht aus feinstem Wüstensand, der unbarmherzig durch den dicksten Stoff und das Leder gelangte und auf der Haut rieb. »Hör einfach nicht auf das, was der schlecht gelaunte Zwerg vor sich hin grummelt«, sagte er zu dem Tier. »Du hast mich hervorragend durch das Geborgene Land getragen.«

Sie standen auf der untersten Terrasse der beeindruckenden Festung Ogertod, einer der berühmtesten Bastionen, welche die Zwerge je geschaffen hatten. Die Baumeister hatten die Feste, die sich an die Ausläufer des Blauen Gebirges schmiegte, teils im Stein belassen, teils hatten sie die Wehre vorgelagert, sodass sich vier untereinander liegende Verteidigungsebenen ergaben.

Lange Zeit hatten die Clans des zweiten Stamms gedacht, Ogertod sei unmöglich einzunehmen. Aber die Horden Nôdʹonns hatten ihnen mit viel Hinterlist das Gegenteil bewiesen und furchtbar gewütet.

Wohin Tungdil auch blickte, überall standen Baukräne, Laufräder drehten sich, Seilwinden surrten, Steinsägen fraßen sich durch Fels, das Klingen von Hammer und Meißel lag hundertfach in der Luft, und es roch nach Staub. Die Steinmetzen bauten emsig wieder auf, was die Ungeheuer eingerissen hatten. Der Zustand der Schutzlosigkeit würde nicht lange währen. Schon wurden die zerstörten Wälle eingerissen und von Grund auf hoch gemauert. Noch dicker, noch stärker.

Es sieht aus, als käme hier alles in Ordnung, dachte Tungdil erleichtert. Warum will meine Unruhe nicht weichen?

Tungdil hörte Ingrimmschs Lachen. »Solange wir nicht ausgerottet sind, sind wir nicht besiegt. Die Knochen der Schweineschnauzen bleichen in der Sonne, aber über den Türmen wehen immer noch unsere siebzehn Clanbanner.« Er eilte mit langen Schritten auf den oberen Vorplatz zu, wo sich das turmhohe Tor in das unterirdische Reich der Zweiten befand.

Tungdil wandte sich zu den Fahnen, die er bereits von weitem, als sie noch durch die Ausläufer der Wüste Sangreîns geritten waren, als kleine, dünne Striche erkannt hatte. Es musste etwas Besonderes in Ogertod vorgehen. Nicht nur die Farben der Gastgeber hingen gehisst; allem Anschein nach befanden sich die Clans der Vierten und Ersten ebenfalls in der Festung.

Die Versammlung!, erinnerte er sich schlagartig an das Versäumnis, das er beinahe begangen hätte. »Boïndil, kann es sein, dass wir Gandogars Wahl zum Großkönig um ein Barthaar verpasst haben?«, rief er dem Zwerg hinterher.

Der stand bereits am zweiten Innenwall und wollte eben durch das Tor gehen. Abrupt verharrte er. »Bei Vraccas, vor lauter Orks und Bogglins hätten wir beinah ein großes Fest versäumt«, entfuhr es ihm. »Wäre Boëndal bei uns gewesen, er hätte uns sicherlich daran erinnert.« Augenblicklich schnupperte er in Richtung des gigantischen Eingangs und entspannte sich wieder. »Nein, ich rieche nichts von einem Festmahl. Demnach kommen wir nicht wirklich zu spät, Gelehrter.«

Mit den übrigen Zwergen betraten sie das unterirdische, aus dem Berg gehauene Reich. Sie schritten durch Hallen, die reich mit Ornamenten geschmückt waren, vorbei an titanischen Säulen und dem übergroßen Abbild des Stammvaters der Zweiten, Beroïn, auf einem Thron aus weißem Marmor. Als sie zwischen den Füßen des regungslosen Giganten hindurchmarschierten, gelangten sie in den Korridor, der sie vor das Portal der Ratshalle brachte.

»Erinnerst du dich noch?«, fragte Boïndil leise.

»Wie könnte ich es jemals vergessen?« Tungdil kannte diesen Weg noch sehr genau. Hier war er mit den Kriegerzwillingen entlanggegangen, um mitten in einen hitzigen Disput hineinzuplatzen. Für ihn war es der Auftakt zu einem Abenteuer gewesen, das aus ihm einen echten Zwerg gemacht hatte.

»Verdammtes Licht! Wir sollten unter der Erde bleiben, wie es sich gehört.« Ingrimmsch staubte seinen Zopf ab, der unter der sengenden Wüstensonne Sangreîns geblichen war. »Denkst du, sie streiten bei unserem Eintreffen wieder über etwas?«

Tungdil verneinte. »Es gibt keinen Grund, sich uneins zu sein. Gandogar ist der rechtmäßige Anwärter auf den Thron. Sein ehrenhaftes Verhalten sollte den letzten Zweifler davon überzeugt haben, dass sich sein Geist von den Einflüsterungen Bislipurs befreit hat.«

Boïndil zwinkerte ihm zu. »Aber du hast mit deinen Taten noch mehr von uns überzeugt.«

»Ich habe eine andere Aufgabe. Du weißt das, und allen anderen werde ich es notfalls noch einmal erklären.« Mit der Faust hämmerte er dreimal gegen das Portal, legte die Hände gegen die Türflügel, holte tief Luft und drückte sie auseinander.

Warmes Licht empfing ihn, doch schon auf den ersten Blick erkannte er, wie sehr die Bestien in der bedeutungsvollen Halle gewütet hatten.

Von den zahlreichen Rundsäulen, die in schwindelnde Höhe emporragten, fehlten mehr als die Hälfte, und nur den meisterhaften Baukünstlern war es zu verdanken, dass die Decke nicht einstürzte.

Es tat ihm in der Seele weh, die Wände zu betrachten. Wo einst Geschichten des Zwergenvolkes eingemeißelt waren, die an glorreiche Taten und überragende Siege in den vergangenen Zyklen erinnert hatten, prangten nun derbe Löcher in den Wänden. Die Keulen der Orks hatten die uralten Zeugnisse unwiederbringlich zerstört.

Tungdil hörte Ingrimmsch aufstöhnen, den der Anblick ebenfalls quälte. Angesichts der Verwüstung würde er die Orks mit noch mehr Begierde jagen und töten, falls es zu seiner Leidenschaft überhaupt eine Steigerung gab.

Kohlebecken und Leuchter warfen ihr Licht auf die Plätze der fünf Stammeskönige, die halbkreisförmig um einen Tisch angeordnet waren.

Tungdil erkannte König Gandogar Silberbart aus dem Clan der Silberbärte vom Stamm des Vierten, Goimdil; neben ihm saßen Xamtys II. Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirne vom Stamm des Ersten, Borengar, und der einarmige Balendilín Einarm aus dem Clan der Starkfinger. Aus dem weisen Berater des verstorbenen Großkönigs Gundrabur Weißhaupt war nun der König des Stammes der Zweiten geworden. Auf den Steintribünen dahinter saßen die Clanführer und Angehörigen der Stämme, und es wurde gemurmelt und durcheinander geredet.

Tungdil suchte das Gesicht seiner Gefährtin Balyndis unter ihnen und schenkte ihr ein warmes Lächeln, ehe er sein Vorhaben anging. Was er zu tun gedachte, hatte er sich vor vielen, vielen Sonnenumläufen überlegt und beschlossen, ohne Boïndil oder andere um Rat zu fragen.

Tungdils Aufmerksamkeit richtete sich auf die beiden einsamen Stühle und die verwaisten Ränge dahinter.

Mit den Dritten, den Zwergenhassern, rechnete niemand, aber ihr Platz wurde freigehalten; die Fünften hingegen gab es nicht mehr.

Das würde sich mit seinem Eintreten ändern.

»Ich grüße den Rat der Stämme«, sagte er mit lauter Stimme, und auch wenn ihm das Herz vor Aufregung bis zum Hals klopfte, ließ er sich nichts anmerken.

»Oh, ich höre die Gelehrtenzunge«, unkte Ingrimmsch leise und rollte mit den Augen. Für ihn bedeutete es nach wie vor ein kleines Wunder, dass sein Freund die Wortgewalt von Königen und Herrschern besaß und dennoch keiner von ihnen war. Mehr als sechzig Zyklen, die er als Findelzwerg bei dem Menschenmagus Lot-Ionan verbracht hatte, hatten Tungdils Verstand geschärft und ihm ein Wissen verschafft, wie es sonst keiner ihres Volkes in seinem Alter besaß.

»Zum zweiten Mal seit mehr als vierhundert Sonnenzyklen haben sich die Mächtigsten und Besten aller Stämme versammelt, um einen Großkönig zu wählen.« Tungdil trat näher und stellte sich vor den Tisch, an dem die Herrscherin und die Könige saßen. Seine Rechte hatte er auf den Axtkopf der Feuerklinge gelegt; er brauchte etwas, an dem er sich festhalten konnte. »Dieses Mal wird es keinen weiteren Anwärter auf den Thron geben. Ich jedenfalls mache Gandogar den Titel nicht noch mal streitig.«