»Ein Ausgestoßener und ein Schauspieler retten das Geborgene Land. Wolltest du nicht schon immer eine ruhmreiche Rolle, Unglaublicher?«, versuchte Tungdil, ihn aufzuheitern.
»Bei Palandiell, was gäbe ich dafür, etwas mehr proben zu können«, seufzte Rodario. »Ich mache mir dabei weniger Sorgen um meine Textpassagen als um die Fechtszene. Das letzte Mal fiel ich kopfüber von der Bühne.«
Der Zwerg klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst es meistern.« Er blickte prüfend zum Himmel, wo sich die letzten Schlieren anschickten, in die Fassung und von dieser in den Stein zu sickern. »Wir tun so, als gingest du nach unten, um Hilfe für mich zu holen. Auf mein Zeichen hin greifen wir von zwei Seiten an. Einer von uns wird es schaffen, ihr den tödlichen Stich zu versetzen.« Sie reichten sich die Hände.
Rodario nickte. »Du bist zu schwer für mich«, sagte er laut. »Ich muss mir jemanden suchen, der dich nach unten trägt. Mit der Verletzung kannst du unmöglich laufen.« Der Mime gab einen überzeugenden verzweifelten Freund und einen noch überzeugenderen Verletzten, der ächzend und auf den Stab gestützt auf die Tür zuhinkte, die zu der Treppe nach unten führte.
Die Eoîl beachtete weder ihn noch Tungdil. Mit einem verklärten Ausdruck auf dem Gesicht und Augen, die so schön waren, dass es dem Zwerg Unbehagen bereitete, schaute sie auf den Stein, dessen Funkeln zunahm.
Es wurde heller, graue Schneewolken kehrten zurück und luden ihre weiße Fracht über den Dächern ab. Die dunklen Schleier über Porista waren verschwunden, das Böse hatte sich durch die kristallene Einfassung und die Runen zu magischer Energie geformt, gefangen in dem Diamanten.
»Es ist soweit.« Sie schritt auf den Fahnenmast zu. »Ich habe dir versprochen, das Geborgene Land zu verlassen, und das werde ich auch tun. Ich hinterlasse es euch gereinigt vom Bösen.«
Tungdil gab Rodario das Signal und setzte sich in Bewegung, um die Eoîl abzufangen.
»Lass die Finger von dem Stein«, sprach er warnend. »Die Macht ist zu groß für dich.«
Sie schaute ihn verwundert an, der Widerstand überraschte sie. »Also wünschst du doch mein Feind zu sein und zu sterben, Untergründiger?« Sie hob den linken Arm. »Ich erfülle dir gern deinen...«
Ein länglicher Gegenstand zischte durch die Luft, traf sie in die rechte Seite und schleuderte sie gegen die Brüstung. Rodario hatte den Stab mit der Klinge voraus geworfen und die Eoîl zu seinem eigenen Erstaunen getroffen.
»Ha!«, jubelte er, zog sein Kurzschwert und näherte sich ihr. »Von wegen göttlich. Wir haben deine Schwäche erkannt! Du besitzt keine Kraft, solange du den Stein nicht trägst, Elbin. Alle Energie steckt in ihm.«
Tungdil erreichte den Fahnenmast und kappte das Halteseil mit einem leichten Schlag. Die Fassung mitsamt dem Diamanten senkte sich in seine Hand. Schnell riss er die Kordel ab, an der der Stein am Haltehaken hing, und steckte ihn hinter seine Gürtelschnalle. »Du bekommst ihn nicht.« Er hinkte weiter, genau auf sie zu. »Und du bekommst auch keine Gnade für das, was du und deine Avatarfreunde den Menschen im Geborgenen Land angetan haben.«
Blut rann aus ihrem Mundwinkel und befleckte die reine, weiße Robe. Sie zog sich den Speer aus der Seite und erhob sich; ein hellroter Fleck breitete sich unterhalb des Einstichs aus. Jählings griff sie den Zwerg mit ihrem Schwert an, der ihren unglaublich schnellen Schlag mit Mühe parierte. Klirrend trafen Axtschneide und Schwertklinge aufeinander.
Ihr graziler Körper täuschte. Die Wucht hinter dem Hieb kam dem eines gestandenen Zwergs nahe, Tungdils angeschlagenes Bein gab schon wieder nach.
Glücklicherweise eilte Rodario herbei und schlug nach der Eoîl, die dem ungestümen Angriff mit einer leichtfüßigen Bewegung entging. »Wahrlich, Ihr seid schnell, aber es wird Euch...«
Ohne hinzusehen, stach sie mit ihrer Waffe blitzartig nach dem Mimen und jagte ihm den Stahl mitten in den Bauch. Rodario krümmte sich und schrie gellend, als sie das Schwert drehte und herauszog.
Tungdil aber hatte bereits zu einem Schlag ausgeholt.
Die Axt hielt dumpf surrend auf die verletzte Stelle der Gegnerin zu, die ihr Schwert augenblicklich zur Abwehr hob.
Die schmale Schneide zerbrach unter der Kraft des Hiebes, sie vermochte die Attacke nicht abzuwehren, und gleich darauf steckte die Axt bis zum schweren Kopf im Körper der Eoîl.
Der Zwerg hatte so viel Gewalt hineingelegt, dass sie seitwärts geschleudert wurde und gegen die niedrige Balustrade prallte. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel darüber.
Tungdil ließ den Griff seiner Waffe los, er wollte ihr keinen Halt bieten. Er schaute über den Rand des Geländers und sah, wie die Eoîl in die Tiefe stürzte.
Zweimal streifte sie dabei die sandfarbene Wand des Turms, Blutwolken sprühten auf, als ihr Fleisch von den Knochen geschält wurde. Letztlich zerschellte sie am Fuße des Bauwerkes, ihr dünner Leib wurde durch den Aufprall zerrissen.
Die Götter standen nicht auf deiner Seite, dachte der Zwerg erleichtert beim Anblick des zerstörten Körpers. Er berührte die Schließe, hinter der er den Diamanten trug.
»Ich wusste, warum ich mir Sorgen gemacht habe«, hörte er Rodario hinter sich stöhnen, der sich die Hände vor den Bauch hielt und die Blutung aufzuhalten versuchte. »Aber hier von der Bühne zu fallen, wäre schlimmer gewesen.«
Tungdil humpelte zu ihm, ein Blick genügte. »Es ist die linke Seite, die verletzt wurde. Der Stich ist weit genug unten, dass dir das Spitzohr deine wichtigen Organe nicht durchbohren konnte«, machte er ihm Mut. »Ich gehe und...« Er hörte Schritte und das Scheppern von Rüstungen, welche die Treppe heraufkamen. »Es ist noch nicht vorbei.« Der Zwerg stellte sich schützend vor den Verletzten, in seiner Not zog er den Dolch, um den Männern der Eoîl begegnen zu können.
Eine kleine, gerüstete Gestalt sprang aus der Türöffnung, den Krähenschnabel schwingend.
Als sie sah, dass es nichts mehr zu bekämpfen gab, stellte sie die Waffe auf den Boden, schob das Helmvisier quietschend nach oben und zeigte ihr furchiges, bärtiges Gesicht.
Vorwurfsvoll schaute sie zuerst auf Tungdil, dann auf den Dolch. »Was denn, Gelehrter? Hast du deine Axt etwa schon wieder geworfen?«
Die Zwerge hielten sich nicht mit langen Erklärungen auf.
Tungdil und Boïndil stiegen die Treppe nach unten, vorbei an dem Durchbruch, den das Wesen des Eoîl am Fuß des Turms geschaffen hatte, und gelangten tiefer in die Gewölbe des Palasts.
Ingrimmsch führte Tungdil, denn er wusste genau, wo sich der Ursprung der Quelle befand.
»Ich glaube, sie hat meinen Sturz aufgefangen«, berichtete er unterwegs. »Ich fiel lange und hatte Zeit genug, zu Vraccas zu beten, als ich plötzlich langsamer wurde und das Eisen um meinen Leib immer heißer wurde. Dann schwebte ich und glitt langsam wie eine Feder zu Boden.« Er deutete hinunter in die Schwärze. »Da unten, da muss die Quelle sein. Ich wäre genau in sie hineingefallen.«
»Die Rüstung hat dich wahrscheinlich gerettet«, mutmaßte Tungdil. »Balyndis wird stolz sein, wenn sie hört, was das Geborgene Land und wir ihr alles zu verdanken haben.«
Die Erde rumorte unter ihren Füßen. Dieses Mal hielt das Beben lange an, Steinstaub rieselte herab, die Mauer des Turmes zerrieb sich durch die ständigen Erschütterungen, und Tungdil glaubte, einen Riss in dem Bauwerk zu erkennen. Schon ging das Rütteln in ein beständiges Zittern über.
»Ist die Quelle sehr weit unten?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Die Schmerzen in seinem verletzten Oberschenkel waren kaum mehr zu ertragen, doch er nahm sich Boïndil zum Vorbild, dem es mit seiner durchstochenen Schulter nicht besser erging.