»Es sind schon einige Stiegen. Ich habe lange gebraucht, bis ich wieder bei euch war«, gab er zurück. »Ich sagte doch, dass der Turm mangelhaft gebaut ist.« Er dachte dabei an die flaschenzugähnlichen Aufzüge, wie sie die Ersten im Roten Gebirge konstruiert hatten. Damit wäre es möglich gewesen, den Höhenunterschied in wenigen Lidschlägen zu überbrücken. »Die Magi sind sicherlich hinaufgeflogen«, brummte er und stützte seinen Freund.
Sie gelangten auf den mit Teppichen ausgeschlagenen Boden des Gewölbes. Genau in der Mitte war eine Aussparung, wo mystische Zeichen auf dem Stein prangten. Tungdil hatte mit einem Loch, einer Vertiefung oder irgendeiner Einfassung gerechnet, wie man es bei einer Quelle erwartete. Anscheinend verhielt es sich bei Magie anders als bei Wasser.
Ingrimmsch schaute skeptisch auf die kahle Stelle, hielt prüfend die Hand darüber, doch es geschah nichts. »Sie tut nichts mehr.«
Der Zwerg nahm die Kristallfassung mit dem Diamanten heraus. »Hoffen wir, dass wir es rückgängig machen können.« Bedächtig legte er sie auf den blanken Stein zwischen den Symbolen und Runen, dann warteten sie gespannt.
Das Rütteln ließ nicht nach, es verstärkte sich sogar. Sie vernahmen, wie das Fundament des gewaltigen Turms um sie herum bröckelte, Steine fielen aus der Gewölbedecke und polterten hernieder.
»Es wird nicht mehr lange halten.« Boïndil fuhr mit den Fingern über die Mauer. »Wenn er einbricht, reißt er die anderen Türme und die Kuppelhalle mit sich. Wir müssen raus, Gelehrter.«
Tungdil starrte auf die Runen an der Quelle, die weder aufleuchten noch blinken wollten; auch die Einfassung um den Diamanten verhielt sich unauffällig. Vielleicht muss der Kristall zerstört werden.
»Gib mir den Krähenschnabel«, verlangte er von dem Zwilling. Mit der stumpfen Seite der Waffe nahm er Maß und schlug mit aller Kraft auf die Fassung, die in hunderte kleiner Stückchen barst. Der Diamant zeigte sich unversehrt, es regte sich aber nichts in seinem Inneren. »Verdammt!«, schrie Tungdil. »Verfluchte Quelle, erwache zum Leben!« Er drosch ein zweites Mal zu. »Erwache, hörst du!?«
Nach dem dritten Schlag gab der Zwerg auf. Was auch immer man benötigte, um sie dazu zu bringen, ihre Kraft fließen zu lassen, er kam nicht darauf.
Das Beben wurde stärker.
Ingrimmsch packte ihn an der Schulter. »Raus«, befahl er. »Der Turm wird gleich einstürzen.«
Tungdil nahm den Diamanten. Zusammen verließen sie das Gewölbe und liefen durch den verlassenen Palast, so schnell es ihnen ihre Verwundungen und ihr geschwächter Zustand erlaubten.
Sie kamen an der seltsamen Kreatur vorbei, die erschlagen und von toten Dritten umringt auf dem Marmor lag, sie passierten tote Soldaten, die den Avataren gedient hatten, nur von den Albae fehlte jede Spur.
Keuchend eilten sie die breite Freitreppe des Palasts hinab in den Vorhof, wo sie auf Rodario stießen, der von ein paar Zwergen auf einer Trage in Sicherheit gebracht wurde.
Das Tor ließ sich mühelos öffnen, ohne die magische Quelle verloren die Schutzrunen ihre Wirkung. Auch die Skelette derer, die über die Mauer klettern wollten und an den unsichtbaren Mächten hängen geblieben, verdurstet und gestorben waren, waren hinuntergefallen. Alle Magie war aus Porista gewichen.
Ein neuerliches wütendes Beben versetzte dem zweithöchsten Turm den Todesstoß.
Sie wandten sich um, um den Niedergang des einst so glanzvollen Palasts zu verfolgen. Das Bauwerk schwankte wie eine Ähre im Wind; es legte sich so weit zur Seite, dass die Mauern nicht mehr hielten und das obere Drittel abbrach.
Die Spitze mit der schweren Balustrade schlug gegen den höchsten der Türme und riss ihn ein; er fiel in sich zusammen, die Trümmer prallten gegen den Palast und zerschlugen das große Kuppeldach, während die sandfarbenen Türme einer nach dem anderen umstürzten.
Die aufsteigenden Staubwolken nahmen den Zwergen die Sicht und rollten wie eine hellbraune Wand heran. Steinsplitter flogen nun auch bis zu ihnen, und das Geräusch berstender Steine wollte nicht mehr enden.
Sie gingen hinter der Palastmauer in Deckung und warteten, bis die Zerstörung ein Ende hatte. Staub umschloss sie trüber als dickster Nebel und verklebte Augen und Nase. Wer sich kein Tuch vors Gesicht hielt, begann laut zu husten und zu keuchen.
Endlich beruhigte sich die Erde unter ihnen wieder, das Rütteln hörte auf.
Tungdil wischte sich den Dreck aus den Augen und langte in den Schnee, um sich damit den Staub aus dem Gesicht zu waschen. Welch eine Zerstörung.
Die gesamte Anlage war zu einem einzigen Ruinenfeld geworden, nichts erinnerte mehr an die einstige Pracht. Tonnen von Steinen hatten sie zerschlagen, das Wissen aus tausenden von Sonnenzyklen unter sich begraben und vernichtet. Es schien, als hätte die sterbende Quelle beschlossen, dass es ohne Magi und Magae weder magisches Wissen noch den Palast geben dürfe. Porista und das Geborgene Land blieben ohne Zauberkundige zurück.
Gedankenverloren umfasste Tungdil den Diamanten in seiner Tasche. Was mache ich nun mit dir?
Zahlreiche Schritte näherten sich; die Zwerge hörten das vertraute Klimpern von Kettenhemden, und aus den letzten Schmutzschlieren traten Xamtys und ihre Krieger Seite an Seite mit Gemmil und seinen Streitern. Tungdil erkannte Balyndisʹ strahlendes Gesicht neben der Königin.
»Vraccas sei gepriesen, ihr lebt!«, rief sie glücklich. Sie hatte die Schlacht mit kleineren Blessuren überstanden, an den Zacken ihrer Keule klebte das Blut der Feinde. »Als wir die Türme fallen sahen, befürchteten wir das Schlimmste.«
»Vielleicht ist das Schlimmste geschehen, und wir befinden uns an der falschen Stelle, um es zu sehen«, gab Tungdil düster zurück. Dennoch freute er sich bei allem Übel um ihn herum, die Schmiedin zu sehen.
Sie kam an seine Seite und drückte ihn vorsichtig an sich. »Wir haben die Streitmacht der Avatare besiegt.«
»Und wir haben die Avatare besiegt«, sagte Rodario hüstelnd. »Tungdil und ich. Ein großartiges Schauspiel. Stellt euch vor, der Eoîl war eine...«
»... Nebelgestalt«, fiel ihm Tungdil ins Wort. »Der Eoîl war eine Nebelgestalt, ähnlich wie der Dämon, der Nudin zum Verräter machte«, wiederholte er mit bestimmtem Tonfall, um dem Mimen zu bedeuten, nichts von der Elbin zu verraten. Er fürchtete, dass ansonsten die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen seinem Volk und den Elben durch die Neuigkeit einen weiteren Riss bekommen könnten und die Elben auch bei den Menschen in Verruf gerieten. Für so manchen reichte es aus, wenn nur ein einzelner Vertreter einer Rasse oder eines Volkes etwas Schreckliches tat, um alle dafür strafen zu wollen.
Xamtys bemerkte sehr wohl, dass Rodario etwas anderes hatte sagen wollen. »Und wie habt ihr ihn ohne die Feuerklinge besiegen können?«
»Er beging den Fehler, menschliche Gestalt anzunehmen und sich dadurch verwundbar zu machen«, sprang der Schauspieler ein, der die Absicht hinter Tungdils Lüge erahnte. »Ein furchtbarer Kampf, aber letztlich lenkte ich ihn mit einem Stich ab, und unser neuerlicher Held Tungdil Goldhand verpasste ihm den vernichtenden Schlag.«
Der Staub lichtete sich, Schnee fiel wieder auf sie herab und drückte den Schmutz zu Boden. Er klärte die Luft und erlaubte es ihnen, frei zu atmen.
Xamtys warf Tungdil einen abschätzenden Blick zu, sagte jedoch nichts. Es gab keinen Grund, seine Worte vor den Augen und Ohren der stolzen Zwerge in Zweifel zu ziehen. »Ich schlage vor, ein Teil kehrt in unser Lager zurück und versorgt die Verletzten«, meinte sie stattdessen mit einem Fingerzeig auf die Wunden von Boïndil, Tungdil und Rodario. »Der Rest birgt unsere Toten.«
Tungdil setzte sich, gestützt von Balyndis, in Bewegung, als sein Fuß auf etwas Kleines, Hartes trat.
Ohne genau zu wissen, warum er es tat, bückte er sich und langte in den Schnee, um nach dem Gegenstand zu suchen. Er wühlte in dem Weiß herum und bekam einen fingerlangen Splitter zu fassen; er war grün, teilweise schwarz verfärbt, und gefrorenes Blut haftete daran.