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Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreiches Lios Nudin, Porista,

6234./6235. Sonnenzyklus, Winter

Die Bewohner Poristas entdeckten in den Gräben, welche die Beben gerissen hatten, doch noch etwas Gutes. Auf diese Weise ersparten sie sich die Mühe, den gefrorenen Boden aufzuhacken, um die vielen Leichen zu beerdigen.

Die toten Soldaten der Avatare wurden ohne Zeremonie in die Risse geworfen; zum Schließen der Massengräber nutzten die Städter den geröllartigen Schutt, der von der zusammengebrochenen Palastanlage stammte.

In eigenen, weit abseits von den Menschen gelegenen Gräben fanden die gefallenen Zwerge ihre letzte Ruhestätte. Seite an Seite lagen nun die Ersten, die Freien und die Dritten, vereint im Kampf und nun im Tod. Zum ersten Mal herrschte Frieden zwischen den Stämmen, und Tungdil war sich sicher, dass in der Ewigen Schmiede Platz für alle Zwerge war, die sich nichts vor Vraccas hatten zuschulden kommen lassen.

Boëndal Pinnhand aus dem Clan der Axtschwinger vom Stamm der Zweiten kehrte als Held in seine Heimat, das Blaue Gebirge, zurück - allerdings anders, als es sich Tungdil und alle anderen Zwerge für ihn gewünscht hatten. Boëndal überstand seine schweren Brandwunden nicht, auch wenn die Heiler alles versucht hatten, um die Flamme seiner Lebensesse zu bewahren.

Sie ließen ihm die kostbare Rüstung, um seine Größe als Krieger zu unterstreichen, hievten ihn auf einen Schild und trugen ihn in einem Ehrenzug durch das Feldlager, durch die Gassen und Straßen Poristas, ehe Ingrimmsch und eine Abordnung der Ersten mit seinem Leichnam nach Süden aufbrachen.

»Ich werde ihn nicht in dieser Erde verscharren«, beharrte ein gebrochener, niedergeschlagener Boïndil. Der Verlust traf ihn schwer, ein Teil von ihm selbst war gestorben. »Es war sein Wunsch gewesen, an der Hohen Pforte begraben zu werden, damit er Wacht hält über das Geborgene Land und nichts Böses Einlass findet.«

Tungdil beugte ergriffen das Haupt vor dem toten Freund, berührte voller Gram die kalten, verbrannten Finger und schämte sich seiner Tränen nicht. Verzeih, wenn ich dich nicht begleite. Es sind noch dringende Dinge zu erledigen, aber ich werde dein Grab besuchen und dir gute Kunde bringen. Dann nahm er Boïndil in den Arm. Sie weinten um den Bruder, um den Gefährten, mit dem sie so viel erlebt hatten.

»Wer wird mich zurückhalten, wenn ich der Raserei zu erliegen drohe?«, schluchzte der einsame Zwilling. Salzige Tränen perlten über seinen schwarzen Bart und froren zu einer einzigen, klaren Perle.

»Ich werde bald zur Stelle sein«, gab Tungdil erstickt zurück »Wir werden so manchen Humpen auf Boëndal leeren, werden uns an ihn erinnern und ihn vor uns sehen, wie er zusammen mit Sanda und all denen feiert, die im Kampf gegen das Böse gefallen sind. Vraccas hat seiner Seele sicherlich einen angemessenen Empfang bereitet.«

Sie drückten einander, dann gab Ingrimmsch das Zeichen zum Aufbruch. Äußerst nachdenklich kehrte Tungdil in seine Unterkunft zurück, wo ihn ein trauriger Rodario erwartete.

»Er ist weg«, seufzte er.

»Ich weiß, ich habe mich eben von ihm verabschiedet«, gab der Zwerg zur Antwort, doch der Mann winkte ab.

»Nein, nicht Ingrimmsch. Furgas. Mein Magister technicus ist auf und davon, ohne mir oder irgendjemandem etwas davon zu sagen.« Hilflos hob er die Schultern. »Was mache ich denn nun?«

Tungdil schenkte sich Tee ein und reichte seinem Besucher ebenfalls einen Becher. »Angst um dein Curiosum?«

»Vergiss doch das Curiosum, Tungdil«, wehrte er empört ab. »Ich mache mir Sorgen um meinen Freund Furgas. Sicher bange ich auch ein wenig um den technischen Firlefanz, aber meine Unruhe gilt allein ihm.« Er nippte am Tee. »Was ihm widerfuhr, ist grausam. Erst liegt er in einer Giftstarre, die ihm Andôkais Intrigen beschert haben, dann erfährt er, dass er seinen Sohn verloren hat, und nicht einmal einen halben Sonnenzyklus später muss er an einem einzigen Umlauf sein verbranntes Kind beerdigen und um seine Gemahlin weinen, deren Reste wir im Schutt niemals finden werden.« Er seufzte ein weiteres Mal und noch schwerer. »Kann man das aushalten, ohne an den eigenen Tod zu denken? Wenn er sich etwas antut?«

»Glaube ich nicht.« Tungdil gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. »Wollte er sich das Leben nehmen, so würde er es in Porista tun, wo alles unter der Erde liegt, was ihm etwas bedeutet hat. Er wird auf Reisen gegangen sein, um mit sich ins Reine zu kommen.«

Rodario dachte über die Erklärung nach und klammerte sich daran. »Deine Version gefällt mir wesentlich besser als meine. Ich schließe mich dir an, Held von Porista.«

»Soll ich dir etwas sagen, Rodario? Ich habe das Heldendasein satt«, gestand ihm der Zwerg müde. »Als ich Furgas das letzte Mal sah, sagte er Dinge im Zorn, die mich zum Grübeln brachten.« Er wiederholte die Worte des Freundes, dann nahm er einen Schluck vom Tee. »Und ich glaube, er hatte Recht«, fügte er leise an.

»Denkst du?« Der Schauspieler betrachtete den Dampf, der gegen die Zeltdecke stieg. »Wir hätten die Avatare gewähren lassen sollen? Er hat wohl vergessen, dass ihr kurzer Zug nach Dsôn Balsur fünf Städten den Untergang brachte. Das waren allein schon vierzigtausend Menschen, sagte man uns. Wie viele hätten noch ihr Leben verloren, wenn sie nach Borwôl und Toboribor gereist wären? Und was wäre geschehen, wenn die falschen Avatare ihr eigentliches Ziel erreicht hätten? Lirkim sagte, dass ein jeder von ihnen mehr als ein Kaiser sein würde, und du kannst dir an den Fingern abzählen, wie die Tage im Geborgenen Land geworden wären, wenn einer von ihnen über uns regiert hätte.« Er trank von dem Tee. »Nein, Tungdil. Wir haben das einzig Richtige getan. Wir haben nicht nur unsere Heimat, sondern auch die Menschen im Jenseitigen Land vor den Plänen der wahnsinnigen Magi und Magae gerettet, von der Eoîl will ich erst gar nicht anfangen.« Rodario nickte Tungdil lächelnd zu. »So sehr ich meinen Freund schätze, mit seinen Vorwürfen hatte er Unrecht. Die Zwerge - und vor allem du - haben sich Verdienste erworben, die mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen sind.«

Leiser Applaus ertönte vom Eingang her. Die versammelten Zwergenkönige Balendilín, Glaïmbar, Gemmil, Xamtys und Gandogar klatschten, Prinz Mallen stimmte in die Anerkennung für Tungdil mit ein.

»Wahrlich, ich höre einen Schauspieler zum ersten Mal die Wahrheit verkünden«, sagte der blonde Ido ohne eine Spur von Spöttelei. »Die Menschen in allen Königreichen sollen erfahren, was die Kinder des Schmieds getan und geopfert haben.«

Tungdil schaute auf die Gesichter der Königin und der fünf Könige, die mit ihren Heeren angekommen waren. Er empfand keine echte Freude, sie zu sehen. »Die Freien und die Dritten haben sich geopfert, auch die Ersten standen uns bei, als es gegen die übermächtigen Feinde ging«, berichtigte er das Lob. »Die anderen folgten einem zaudernden Großkönig, der die Augen vor dem verschloss, was ich ihm vorlegte.«

Gandogar neigte sein Haupt. »Du tust Recht daran, mich zu tadeln. Ich habe meine Schwäche erkannt, und Vraccas ist mein Zeuge, dass es sich von nun an nicht mehr wiederholen wird.«

Er trat ins Zelt, die anderen folgten ihm, suchten sich Sitzgelegenheiten. Es gab einiges zu bereden, und selbst Mallen sah so aus, als brenne ihm etwas auf der Seele.

»Tungdil Goldhand, ich möchte dich bitten, mein Berater zu sein«, sagte Gandogar getragen. »Wer es sich erlauben kann, die Ohren vor deinem Rat zu verschließen, ist ein Narr und kobolddumm.«

Es behagte Tungdil sehr, dass der Großkönig der Zwergenstämme ihn, einen Dritten, einen Ausgestoßenen, einen Findelzwerg und dennoch zweifachen Helden an seiner Seite wissen wollte. Aber es gab für ihn gewisse Dinge zu erledigen, ehe er diese Position annehmen durfte, und das sagte er Gandogar offen. Der Großkönig stimmte der Bedenkzeit zu.