Salfalur kniete sich neben ihn auf die Straße. »Ich bin nicht der Letzte, Tungdil. In allen Stämmen und Clans sitzen unsere Augen und Ohren, die niemals in Verdacht gerieten, zu den Nachfahren unseres Stammvaters Lorimbur zu gehören. Wenn sie meinen Ruf vernehmen, sammeln sie sich zu hunderten unter meiner Führung, und wir gründen den Stamm der Dritten neu. Das Schwarze Gebirge wird nicht lange in der Hand deiner Freunde sein.« Er packte Tungdils Kinn. »Doch du wirst nicht mehr erleben, wie wir sie aus unserer Heimat werfen und die Fehde fortführen. Ohne deine Blutlinie. Folge deinem Vater und deiner Mutter ins Jenseits.«
Der Zwerg riss sich zusammen, die Ohnmacht rückte immer näher. Noch durfte er dem erzwungenen Schlaf nicht erliegen. »Du hast eine Sache nicht beachtet«, stöhnte er undeutlich, weil ihm der Dritte den Kiefer quetschte und ihm beim Sprechen hinderte.
Der kahle, tätowierte Schädel näherte sich ihm, die braunen Augen schauten ihn beinahe belustigt an. Ein brennendes Haus brach hinter ihm zusammen; die aufsteigenden Funken schienen seinen Kopf zu umspielen und verliehen ihm eine dämonische Aura. »Was könnte ich nicht beachtet haben? Du liegst im Staub und wirst an deinen Verletzungen sterben.«
»Ein Zwerg«, keuchte er angestrengt, »wirft niemals seine Waffe, wenn er nur diese eine mit sich trägt.« Er bäumte sich abrupt auf. Seine Rechte, welche den Griff der Feuerklinge nicht preisgegeben hatte, schlug mit aller verbliebenen Kraft zu und hieb dem überrumpelten Salfalur die Schneide auf Höhe der Schläfe senkrecht in den Kopf. Sie gelangte bis zur Mitte des Gesichts, ehe sie im Knochen stecken blieb.
Salfalur stürzte wie von einem Pfeil in den Lebensnerv getroffen nieder, sein Leib zuckte im Todeskampf und wollte sich weigern zu sterben, doch die glasigen, sich mit Blut füllenden Augen bewiesen Tungdil, dass es keine Seele mehr in ihm gab.
Ingrimmsch war ein guter Lehrmeister. Tungdil blieb liegen, unfähig, sich zu rühren, einzig aus Schmerz bestehend.
Den Blick auf die Sterne gerichtet, eine Hand am Stiel der Feuerklinge, wartete er im sterbenden Dsôn auf seinen Tod.
Aber der Tod kam nicht über ihn.
Er lag auf der Straße, hörte das Knacken des Feuers, das allmählich um ihn herum leiser wurde und sich Nahrung in anderen Teilen der Stadt suchte.
Der Zwerg spürte, dass der Tod um ihn herumstrich, lauernd, wie ein Aasfresser auf Beute hoffend, aber etwas vertrieb ihn.
Die Schmerzen in seinem Körper ließen nach, und als die Sonne über den Kraterrand stieg, waren sie kaum mehr spürbar und erlaubten ihm, in einen erholsamen Schlaf zu fallen, ohne dass er fürchten musste, nicht mehr zu erwachen.
Irgendwann hob er seine Lider, das helle Gestirn war kaum weiter gewandert. Hungrig aber ausgeruht richtete er sich auf, so gut es ihm seine verbeulte Rüstung erlaubte, dann löste er die Riemen und legte den Harnisch ab.
Behutsam drückte er auf seiner Brust herum. Die Knochen saßen an der richtigen Stelle, der Schmerz blieb aus. Dabei berührte er die Stelle, an der er das Säckchen mit dem Diamanten verborgen hatte. Er zog ihn aus der Hülle und hielt ihn gegen das Licht.
Verdanke ich mein Leben deinem Wunder, Vraccas, oder dem Stein? Er schaute nach dem Leichnam Salfalurs, der sich bereits stark zersetzt hatte. Vögel und Maden hatten in seinem Gesicht ganze Arbeit verrichtet, der Körper war von den Faulgasen aufgebläht, die ihn zu einem grotesken Zerrbild des Kriegers machten. Wie lange habe ich geschlafen? Er erhob sich und erschrak.
Dsôn bestand nicht mehr.
Während seines Schlummers waren die hölzernen Bauten bis auf das letzte Haus verbrannt und zu Asche geworden. Auf dem Berg erinnerten lediglich steinerne Fundamente an den grausigen Turm aus Gebeinen.
Nirgends stiegen Qualmwolken auf, er hörte kein letztes Knistern mehr. Als er den Finger erprobend in einen Aschehaufen steckte, fühlte sie sich kalt an.
Tungdil raffte die verbogenen Rüstungsteile an sich und eilte den Weg hinauf, der inzwischen getrocknet war. Noch immer wunderte er sich darüber, dass er keine Beschwerden spürte. Er entschloss sich dazu, dass es Vraccas gewesen war, der seine Lebensesse nicht hatte verlöschen lassen. Ein Zwerg und Magie. So weit wird es niemals kommen.
Als er den Rand des Kraters erreichte, blickte er auf ein von Süden heranrückendes Heer aus Menschen und Elben, die, beunruhigt von dem Rauch, in Dsôn Balsur nach dem Rechten sehen wollten. Die Sonne brachte die Banner zum Leuchten und die Panzer zum Funkeln.
Zu spät. Ich habe alles getan, was getan werden musste. Er zog es vor, ihnen nicht zu begegnen, sondern sogleich den Weg nach Nordosten ins Braune Gebirge zu Gandogar einzuschlagen.
Es wurde ein langer Marsch.
Der Zwerg genoss die Einsamkeit, er dachte viel nach. Über die beiden Zwerginnen in seinem Leben und wie es geendet hatte, über das Schicksal der Dritten, über seine Zukunft und wo er sie verbringen wollte. Bei den Freien? Bei den Fünften? Als Berater an Gandogars Seite?
Während er die Grenze zum hügeligeren Königreich Urgon überschritt, reifte in ihm mehr und mehr ein Entschluss.
Tungdil gelangte auf seinem Marsch tiefer ins Königreich, das sich darauf vorbereitete, einen neuen Herrscher zu krönen, denn Belletain war abgesetzt worden, wie er unterwegs in den Gasthöfen erfuhr, in denen er einkehrte. Seine Untertanen standen nicht mehr hinter ihm, die Nachricht vom Verrat an den Vierten kostete ihn das Mitleid und damit sein Amt.
Der Zwerg genoss es, sich wieder in der Gesellschaft der Menschen zu bewegen. Alles erinnerte ihn an die guten Zeiten bei Lot-Ionan, als er nichts weiter gewesen war als einfacher Zwerg mit einem Hang zu Büchern und einer geschickten Schmiedehand.
Er überquerte die steilen Gebirgspässe Urgons, die eine Herausforderung an seine Ausdauer und seine Trittsicherheit darstellten, erklomm Gipfel und stieg in grüne Täler, bis er vor den Toren des Braunen Gebirges stand. Unverzüglich brachten ihn die Wächter zu Gandogar.
Die Vierten stellten ihr Talent, was das Schleifen, Schneiden und Bearbeiten von Gemmen und edlen Steinen anging, stolz und offen zur Schau. Die Gänge waren geschmückt mit Bildern, die sich aus den unterschiedlichsten Halbedelsteinen und Edelsteinen zusammenfügten, blutrote Rubine, tiefblaue Saphire, moosgrüne Smaragde, schwarze Turmaline, rosafarbene Rosenquarze, kunstvoll bearbeitete Achatscheiben... allem Anschein nach gab es keinen Fleck im Reich der Vierten, an dem es nicht glänzte oder schimmerte.
Verstaubt, den Schmutz Gauragars und Urgons auf den Schultern und an den durchgelaufenen Stiefelsohlen, trat er vor den Großkönig und beugte den von der Sonne gebleichten Schopf.
Gandogar, der auf einem Thron aus Bergkristall saß, machte einen äußerst erleichterten Eindruck. »Endlich, Tungdil Goldhand! Vraccas hat meine Gebete vernommen und dich wohlbehalten zu uns geführt. Wie ist es dir ergangen?« Er bedeutete ihm, sich auf den Stuhl zu setzen, und man brachte dem Zwerg schnell etwas zu essen und zu trinken gegen den ersten Hunger und Durst. »Salfalur ist nicht tot«, fuhr der Großkönig fort. »Er tauchte in Porista auf und erschlug ein Dutzend unserer Leute, dann verschwand er. Wir fürchteten schon, er...«
Tungdil hatte den Humpen Bier in einem Zug geleert. »Er ist tot, Großkönig«, unterbrach er ihn. »Er fand mich, und wir kämpften in Dsôn.« Er zog die Feuerklinge aus dem Futteral, klopfte gegen den Axtkopf. »Ich habe mein Eigentum wieder, das mir die Albae gestohlen hatten. Ich fand es in einem furchtbaren Turm und nahm es mir. Danach...«, hob er an, doch dann entschied er sich, den genauen Hergang des Duells mit Salfalur für sich zu bewahren. »Nun, danach wanderte ich zu dir.«
»Du hast lang gebraucht, Tungdil. Die Sonnenumläufe reihten sich aneinander, ohne dass wir eine Nachricht von dir erhielten. Der gesamte Frühling verstrich.«