Er sah das Schmunzeln auf dem altehrwürdigen Gesicht Balendilíns, die Überraschung in den von Flaum gezierten Zügen Xamtysʹ, und er hörte das freundliche Lachen Gandogars, in das die übrigen Zwerginnen und Zwerge sogleich einstimmten. Die Anspannung wich.
Tungdils rechter Arm hob sich, er deutete auf den leeren Stuhl für die Fünften. »Ich bin ein Dritter, die meisten von euch wissen es. Ich bin nicht stolz darauf, ich vermag es aber auch nicht zu ändern. Mein Herz verlangt keineswegs nach eurem Blut, und ich bete zu Vraccas, dass ich nicht der einzige Dritte bin, der nicht mit Hass geschlagen wurde.« Er drehte den Kopf, um Balyndis anzuschauen. »Mein Herz verlangt nach einer Zwergin, doch nicht, um ihr den Tod zu bringen.« Sie strahlte ihn so sehr an, dass er sich nur mit Mühe von ihr losreißen konnte. Dann aber ging er auf den freien Platz neben Gandogar zu. »Auch wenn einige sagen könnten, mein Platz wäre unter den Dritten, so sehe ich mich an einem anderen Ort.«
Während Tungdil auf den Stuhl der Fünften zuging, legten sich seine Hände auf den diamantenbesetzten Waffengurt, und seine Gedanken kehrten zu jenem Augenblick im Grauen Gebirge zurück, in dem er sich von dem Ahnherrn der Fünften, Giselbart Eisenauge, getrennt hatte. Der Gurt hatte Giselbart gehört, und er hatte ihn Tungdil vor dem Abschied zum Geschenk gemacht.
Und so ging Tungdil an dem leeren Stuhl vorüber und stellte sich auf die vorderste Bank der Tribüne der Fünften, damit die anderen ihn besser sahen.
»Ich habe Giselbart Eisenauge ein Versprechen gegeben. Er sagte zu mir: Besiedelt die Hallen von neuem, wenn ihr das Böse aus dem Geborgenen Land vertrieben habt. Lasst das Fünfte Zwergenreich nicht länger von Bestien beherrscht sein.« Tungdil schwieg, um den Worten die notwendige Wirkung zu verleihen. »Er gab mir seinen Gürtel als Andenken an die Fünften, die ihr Reich bis zum letzten Zwerg verteidigt haben. Selbst das Tote Land konnte ihren ehernen Willen nicht brechen und sie an ihrer Pflicht hindern«, fuhr er fort. »Sie haben die Esse Drachenbrodem verteidigt und es uns überhaupt ermöglicht, die Waffe zu schaffen, die Nôdʹonn vernichtet hat.« Er zog die Axt und hielt sie senkrecht in die Höhe; dann schaute er zu der Zwergenherrscherin und den Zwergenherrschern. »Ihr wolltet mir die jeweils Besten senden, um mich zu unterstützen, und dafür danke ich euch. Doch ich möchte niemanden um mich haben, der sich auf Geheiß seiner Königin oder seines Königs aufmacht. Ich zwinge niemanden, mit mir nach Norden zu ziehen. Aber jeder, der sich freiwillig entschließt, den Steinernen Torweg mit mir gegen das Böse zu verteidigen, ist mir herzlich willkommen.« Er setzte sich auf die Bank und stellte die Feuerklinge auf den steinernen Boden; der Klang rollte durch die Ratshalle.
Es verwunderte Tungdil nicht, dass sich Boïndil gleich darauf zu seiner Linken niederließ; einige Herzschläge später saß Balyndis zu seiner Rechten.
Mit pochendem Herzen verfolgte er, wie sich immer mehr Zwerge anschickten, ihre bisherigen Plätze aufzugeben, und auf die Tribüne strömten, bis sie zur Hälfte gefüllt war. Darunter befanden sich sieben Clanoberhäupter, die stellvertretend für ihre ganze Sippschaft standen, wie sie ihm versicherten.
Balendilíns gedrungene Gestalt richtete sich auf, die steinernen Zierspangen in den Strähnen seines schwarz-grauen Bartes stießen klirrend gegeneinander. »Tungdil Goldhand, deine Rede beweist, dass du es verdient hättest, nicht auf der Bank, sondern hier vorn auf dem Platz eines Königs zu sitzen«, lobte er ihn. »Ich weiß, dass du es niemals getan hättest, doch ich bin sicher, dass die Zwerginnen und Zwerge, die mit dir gehen, bald erkennen, welcher von ihnen am besten als ihr Anführer geeignet ist. Bei unserem nächsten Wiedersehen, daran gibt es für mich keinen Zweifel, wirst du zwischen uns sitzen.« Er wandte sich der Ratsversammlung zu, und sein langes ergrautes Haar wirkte wie Fäden von Silberwolle. »Wir haben noch eine weitere Pflicht«, richtete er sich an alle. »Großkönig Gundrabur Weißhaupt zog in Vraccasʹ Ewiger Schmiede ein und hinterließ eine Lücke, die wir nun schließen müssen. Die Stämme benötigen einen starken Herrscher, der sie führt, in harten und in guten Zeiten.« Geschickt entrollte er mit der ihm verbliebenen Hand ein Pergament. »König Gandogar Silberbart aus dem Clan der Silberbärte vom Stamm des Vierten, Goimdil, bist du bereit, deinen Anspruch auf den Thron des Großkönigs zu verteidigen?«, verlas er die zeremoniellen Worte, die er schon einmal an ihn gerichtet hatte.
Gandogar stand auf. »Hart wie der Fels, aus dem Vraccas uns schuf, und vernichtend wie meine Axt werde ich gegen die Feinde unseres Volkes vorgehen«, antwortete er feierlich. »Befreit von dem Schatten, den Bislipur auf meinen Verstand legte, gelobe ich ewige Treue und nimmer endende Aufrichtigkeit zum Wohle aller Stämme. Vraccas und ihr seid meine Zeugen.«
Balendilín nickte ihm zu. »Du hast deinen Anspruch geltend gemacht.« Er hob die Stimme. »Gibt es jemanden, der ihn in seinem Anspruch herausfordert?«
Tungdil musste grinsen, als ihn Ingrimmsch in die Seite rempelte und spitzbübisch raunte: »Los! Das ist deine zweite Gelegenheit. Die wählen dich glatt, du musst nur auf deine Gelehrtenzunge vertrauen.«
»Da es niemand gewagt hat, sollst du es sein.« Der einarmige Zwerg ließ die Rolle auf den Tisch fallen und zog sein Rufhorn, um ein lang gezogenes Signal ertönen zu lassen.
Die Tore der Halle öffneten sich, und eine Prozession aus Kriegern aller drei vertretenen Stämme zog ein. Sie trugen einen Ehrenschild, auf den die Krone und der zeremonielle Schmiedehammer gebettet lagen. Die eingravierten Runen im Kopf schimmerten, Edelsteine und Intarsien aus Gold, Silber sowie Vraccasium machten aus dem Insignum der Herrscherwürde ein einzigartiges Stück Handwerkskunst.
Inmitten der Halle hielten sie an und ließen sich auf das rechte Knie herab. Balendilín trat an den Schild und bedeutete Gandogar, zu ihm zu kommen. »Einstimmig von der Versammlung zum Herrscher aller Zwerge erkoren«, er nahm die Krone und setzte sie ihm auf das braune Haar, »ernenne ich dich, König Gandogar Silberbart aus dem Clan der Silberbärte vom Stamm des Vierten, Goimdil, zum Großkönig.«
Er deutete auf den Hammer, und mit Ehrfurcht im Herzen griff Gandogar nach dem Stiel. Überrascht von dem immensen Gewicht, nahm er die zweite Hand zu Hilfe und hob ihn vom Schild.
Die Zwerginnen und Zwerge standen auf, um ebenfalls das Knie vor ihm zu beugen, dann reckten sie ihm ihre Waffen entgegen, wie sie es einst zu Ehren von Gundrabur Weißhaupt getan hatten.
Tungdil lief beim Rasseln der Panzer und Kettenhemden ein Schauer der Ergriffenheit über den Rücken, seine Augen schweiften über die Menge, über sein Volk, über die Kinder des Schmieds, in deren Reihen es noch niemals eine solche Einigkeit wie an diesem Sonnenumlauf gegeben hatte.
Gandogar schwenkte den Hammer und ließ ihn als Zeichen, dass sie sich erheben durften, auf den Marmor prallen. »Ihr habt meinen Schwur vernommen. Jeder, der den Eindruck erlangt, ich würde ihn zu irgendeiner Zeit meiner Herrschaft vergessen, soll auf der Stelle zu mir kommen und mich mit lauten, zornigen Worten daran erinnern.« Er ging an den zertrümmerten Resten der fünf Stelen vorbei, auf denen die heiligen Worte der Zwerge geschrieben gestanden hatten, ehe Bislipur sie vernichtete. »Was Verrat zerstörte, werden Eintracht und Friede wieder aufbauen.« Dann begab er sich zu seinem Thron und nahm darauf Platz. »Lasst die Arbeiten für den Rest des Umlaufs unterbrechen, es soll gefeiert werden!«, rief er freudig.
Nun brandete lauter Jubel auf, die Zwerge pochten mit den Äxten, Hämmern und Beilen gegen ihre Schilde und Rüstungen, und das Scheppern und Krachen wollte nicht mehr enden.
Erst als die Köche die Speisen hereintrugen und immer mehr in die Halle strömten, um gebührend auf das Ereignis anzustoßen, verebbte der Freudenlärm und ging in Lachen und Singen über.