Выбрать главу

Boëndal goss das restliche Bier die Kehle hinunter. »Wie kann ich schlafen, wenn meine Gefährten solchen Gefahren ausgesetzt sind?« Er reichte dem Zwerg den Krug zurück. »Danke für den Trunk. Er hat mir Wärme und Kraft gegeben.«

Die Pelze zurechtrückend, richtete er den Blick wieder auf die eintönig weiße Landschaft unter sich. Er starrte auf die Schlucht, den Zugang zur gewaltigen Feste Eisenwart, und betete leise zu seinem Gott Vraccas, dass er dort unten seinen Bruder und alle anderen erkennen möge, die mit ihm ausgezogen waren, das Böse zu besiegen.

Es ist das größte Abenteuer, das ein Zwerg bestehen kann, und ich bin nicht dabei, dachte er voller Wehmut. Die Pfeilblessuren und der Blutverlust hatten ihn lange Zeit auf das Krankenlager gezwungen. Nun war es zu spät für einen Aufbruch, er würde sie nicht mehr einholen.

Seine Freunde würden ihn und seine vernichtende Waffe, den Krähenschnabel, im Kampf vermissen. Vraccas, du wirst dir etwas dabei gedacht haben, mich bei den Ersten zurückzulassen. Seine breiten Hände ballten sich zu Fäusten. Aber dennoch wäre ich lieber dort, wo mein Bruder ist!

Boëndal schloss die Lider, um sich die Gesichter seiner Freunde vor Augen zu rufen.

Da waren Bavragor Hammerfaust aus dem Stamm der Zweiten, der singende und trinkende Steinmetz mit der Augenklappe, der sich durch reine Unverfrorenheit in die Gruppe eingeschlichen hatte, und Goimgar Schimmerbart, der eher zierliche Zwerg aus dem Stamm der Vierten, ein ängstlicher Gemmenschneider, dessen Bart und Gesicht wegen des Diamantstaubs, der sich in all den Lebenszyklen an der Schleifbank darin ablagert hatte, schimmerten und funkelten. Er sah Tungdil, den beherzten braunhaarigen Zwerg mit dem kurzen Bart vor sich, der sich als Anführer erst noch beweisen musste. Mit ihm verband ihn eine besondere Freundschaft, er und sein Bruder sahen sich als Paten Tungdils, der noch sehr wenig von der echten Zwergenwelt wusste. Die Schmiedin Balyndis Eisenfinger aus dem Clan der Ersten hatte er nur kurz zu sehen bekommen; von ihr wusste er so gut wie nichts. Schließlich war da noch sein kriegerischer, aufbrausender Zwillingsbruder, Boïndil Zweiklinge, den sie Ingrimmsch riefen. Er war muskulös und gedrungen, trug die schwarzen Haare an den Seiten ausrasiert und hinten zu einem dicken Zopf geflochten, der bis an die Kniekehle reichte. Auf andere Zwerge wirkte er stets leicht wahnsinnig. Seine feurige Lebensesse und das heiße Blut waren sein Fluch und sein Vorteil zugleich.

Boëndal öffnete die Augen. Er wird sie vor allen Feinden bewahren, die sich gegen sie stellen. Vraccas, spende ihnen deinen Segen.

Durch das helle Säuseln des Windes, der sich an den Mauervorsprüngen und Felsnadeln fing und sein Lied sang, hörte er das Klirren eines Kettenhemds. Jemand näherte sich ihrem Wachturm in aller Eile.

Boëndal drehte den Kopf und sah einen Boten über den Wehrgang laufen. Er atmete schwer; anscheinend war er die Treppen hinaufgerannt, um ihnen schnellstmöglich die neueste Kunde zu bringen.

»Wir haben es geschafft!«, rief er gegen das Schneegestöber an; Freude und Stolz lagen in jedem seiner Worte. »Eben kam die Nachricht: Die Streitmacht der Ersten und Vierten haben am Schwarzjoch zusammen mit den Elben und Menschen gegen Nôdʹonn gesiegt!«

Aufgeregt umringten die Wächter den Boten und vernachlässigten vor Begeisterung über die gute Nachricht ihre Posten. »Das Geborgene Land ist frei vom Zauber des Dämons, der das Tote Land zu uns führte!« Er schaute sich suchend um und entdeckte Boëndal in dem Pulk. »Ich soll dir ausrichten, dass Tungdil und dein Bruder auf dem Weg hierher sind, um dich abzuholen. Sie wollen ins Reich der Fünften und es wieder mit Leben füllen.«

Boëndal konnte nichts dagegen tun, seine Augen füllten sich mit Tränen der Erleichterung. Er lehnte sich gegen die Mauer und sandte ein stilles Gebet an seinen Schöpfer Vraccas, in dem er ihm mit aller Inbrunst für das Gelingen des Unternehmens dankte. Dann ging er zu dem Kessel mit dem dampfenden Bier, nahm sich einen Humpen aus dem Gestell neben der Feuerstelle und füllte ihn.

»Ein Hoch auf unser Volk!«, rief er glücklich. Die anderen Zwerge fielen in seinen Ruf ein, schöpften sich Bier, und der letzte der Wächter packte übermütig den schweren Kessel, um den Rest daraus zu trinken und ja nichts zu vergeuden. »Wir sind die Kinder des Schmieds und zerschmettern alles, was Tion in seiner Bosheit gegen das Geborgene Land wirft!«

Sie trommelten mit ihren Waffen zustimmend gegen den Stein, stießen miteinander an und leerten die Krüge.

Der Bote grinste. »Ihr fangt früh mit dem Feiern an. Die Königin lässt verlauten, dass wir nach ihrer Rückkehr drei Umläufe lang nichts anderes tun werden, als Fässer zu öffnen und ein Festmahl nach dem anderen zu vertilgen.«

»Das nenne ich ein Wort«, stieß der Zwerg aus, mit dem sich Boëndal zuvor unterhalten hatte, und schickte sich an, auf seinen Posten zurückzukehren. »Und du kannst endlich schlafen«, sagte er augenzwinkernd zu ihm. »Deinem Bruder geht es gut, wie du selbst vernommen hast.«

Mit der Gewissheit kam die Müdigkeit und griff nach Boëndal. Er fühlte plötzlich eine zentnerschwere Last auf seinen Schultern ruhen, die ihn niederdrückte und geradezu auf sein Lager zwang. »Ja«, lächelte er. »Nun darf ich mich hinlegen.« Er wandte sich um und warf einen letzten Blick nach Osten, wo er seinen Zwilling vermutete. »All die Mühe, die Schmerzen und die Entbehrungen, die Tungdil und die anderen erleben mussten, haben sich gelohnt.« Tief atmete er die kalte Luft ein, die plötzlich noch reiner, noch besser roch als vorher. »Ich kann es gar nicht fassen, auch wenn ich niemals daran gezweifelt habe, dass wir siegen würden.«

Der Wächter nickte zustimmend. »Es ist, als hätte man zyklenlang gegen einen Drachen gekämpft, um ihn aus den Bergen zu verjagen, und dann gelingt es einem. Man weiß vor lauter Glück gar nicht, was man tun soll.« Er lehnte sich an die Mauer und lächelte. »Abgesehen davon, ein ordentliches Fest zu feiern, natürlich.«

Boëndal schwieg eine Weile. »Wie wird es im Geborgenen Land weitergehen?«, fragte er schließlich. »Werden wir ein neues Zeitalter voller Freundschaft zwischen den Völkern erleben? Wenn sogar die Elben Seite an Seite mit uns kämpfen, steht es um eine Versöhnung nicht schlecht. Die Fehde zwischen ihnen und uns ließe sich allmählich aus der Welt schaffen.«

Der Wächter verzog das bärtige Gesicht und rieb sich die Nase. »Eher wird der Fuchs vom Hasen gefressen«, meinte er wenig zuversichtlich.

»Aus einer Freundschaft erwächst noch mehr Stärke«, beharrte der Zwilling eisern. »Ehrlich gesagt denke ich nicht, dass es Tion dabei bewenden lässt. Das Übel, welches unsere Heimat bedroht, besitzt mehr Gestalten als nur die von Nôdʹonn.« Er grinste seinen Nachbarn an. »Du sollst die Spitzohren ja nicht bei dir wohnen lassen. Das würde ich auch nicht tun. Es geht darum, miteinander zu reden, sich regelmäßig zu treffen. Mehr nicht.«

Der Zwerg rülpste, spuckte die Mauer hinunter. Noch im Flug wandelte sich der Speichel zu einem kleinen Eisklumpen und verschwand in der Schneeschicht auf dem Dach eines darunterliegenden Turmes. »Ja«, stimmte er wenig überzeugt zu. »Soll der Großkönig das tun. Ich finde die Elben dennoch zu...«

»Eingebildet? Hübsch?«, half Boëndal.

»Weibisch.« Der Wächter hatte das Wort gefunden, nach dem er gesucht hatte, und sah sehr zufrieden aus. »Sie sind weibisch. Und ihre von den Menschen so hoch geschätzte Kultur und ihr Feinsinn haben sie auch nicht vor den Albae retten können.« Er schlug Boëndal auf die Schulter. »Wir sind aus Stein geschlagen und kein bisschen weibisch. Vermutlich haben wir sie in der Schlacht am Schwarzjoch vor dem Untergang bewahrt.«