Eine brünette Zwergin erhob sich und schlug mit ihrem Hammer auf den Boden. Das helle Geräusch brachte die Gespräche zum Verstummen. »Ich bin Kyriss Feinhand aus dem Clan der Gutschmieder vom Stamm des Ersten. Auch wenn ich dir weiterhin gefolgt wäre, Tungdil Goldhand, so verstehe ich, warum du dich so entschieden hast. Wir werden dich und dein Wissen nichtsdestotrotz benötigen.« Sie senkte den Hammer vor ihm und erwies ihm damit ihre Anerkennung. »So ist es an der Zeit, jemanden zu benennen, der geachtet und fähig ist, uns alle zu führen«, fuhr sie fort. »Ich schlage Glaïmbar Scharfklinge aus dem Clan der Eisendrücker vom Stamm der Ersten vor.«
Während sie eine Lobeshymne auf die Taten des bewährten Kriegers sang, wurde die Welt um Tungdil herum verschwommen; ein milchiger Nebel trübte seine Sicht, sein Körper wurde zu Eis, doch in seinem Inneren entfachte sich der Hass gegen den Zwerg von neuem.
Vraccas, ich flehe dich an, lass sie einen anderen finden. Aber die Gesichter, die er schemenhaft durch den Schleier sah, wirkten allesamt zufrieden mit dem Vorschlag. Anscheinend hatte sich der zukünftige Gemahl seiner geliebten Balyndis in der kurzen Zeit, die sie nun hier waren, bereits bei anderen Stämmen und Clans einen Namen gemacht. Einen guten, makellosen Namen.
Du Narr, raunte ihm der Dämon ins Ohr. Wärst du ihr Anführer geblieben, hättest du ihn unter einem Vorwand an die entlegensten Orte des Grauen Gebirges oder sogar allein gegen die Orks schicken können. Nun hast du dir die letzte Gelegenheit genommen, Balyndis wieder an deine Seite zu bekommen. Oder du musst ihn ermorden. Stoß ihn von einer Kante in den Abgrund, wälze einen Stein auf ihn, treibe ihn in das Jenseitige Land, schlage ihm eine Orkaxt in den Kopf und schiebe die Schuld auf sie...
Tungdil konzentrierte sich fest auf das Gesicht seines Freundes Ingrimmsch. Die tückische Stimme wurde leiser und leiser, schließlich hörte er sie nicht mehr, doch der Hass verblieb in seinem Herzen. Ein Blick auf den stattlichen Glaïmbar Scharfklinge genügte, um ihm die Röte ins Gesicht zu treiben. Mit einem Mal verstand er Boïndils Leiden und seinen beinahe unbeherrschbaren Drang, jemanden in Stücke zu schlagen.
Er rief sich selbst zur Ordnung, als ihm bewusst wurde, dass sich die Augen der anderen auf ihn gerichtet hatten.
»Ihr habt gehört, was für Glaïmbar Scharfklinge aus dem Clan der Eisendrücker vom Stamme Borengars spricht«, rief er mit Zittern in der Stimme. »Gibt es noch weitere Anwärter?« Niemand hob seine Waffe. »Keiner?«, wiederholte er seine Frage dennoch, schleuderte sie ihnen anklagend entgegen und legte all seine Verbitterung hinein. »So frage ich dich, Glaïmbar Scharfklinge aus dem Clan der Eisendrücker vom Stamm der Ersten« - seine Augen weigerten sich, den verhassten Zwerg anzublicken, und richteten sich stattdessen gegen seinen Willen auf Balyndis, die neben ihm saß -, »wirst du dich der Wahl stellen und die Fünften führen?«
Dass Glaïmbar aufstand und feierlich »Ja« rief, dass er die Stufen hinabstieg und sich an seine Seite begab, dass die Mehrheit der Zwerginnen und Zwerge jubelte und dass sie letztlich für ihn stimmten, das nahm er kaum mehr wahr. Tungdil sah nur sie, seine unerreichbare Schmiedin.
Erst als sie sich vor Glaïmbar niederbeugten und ihm die Äxte, Keulen, Beile und Hämmer entgegenreckten, riss er sich von ihr los.
»Der neue Stamm der Fünften hat dich erkoren, Glaïmbar«, sagte er, ohne ihm den Kopf zuzuwenden. »Möge Vraccas dich in deinen Entscheidungen leiten.« Mit diesen Worten schritt er rasch aus der Halle, verweigerte ihm das Zeichen der Anerkennung und seinen Respekt. Glaïmbar würde ihn niemals erhalten, nicht in diesem Leben.
Um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen, lief er durch die Gänge, vorbei an den abgestützten Sälen und den zahlreichen Baustellen, an denen die Steinmetzen der Zweiten zu arbeiten pflegten. Seine Füße trugen ihn zu dem Ausgang, der ihn in die Ruine der von den Orks geschleiften Bastion führte.
Aufgewühlt stand er zwischen den Trümmern, das Gesicht zu den Sternen gereckt. Tränen der Wut und der Verzweiflung rannen ihm über die Wangen und tropften durch den Bart auf die Rüstung.
»Hör auf damit. Sie wird rostig. Salzwasser ist nicht gut für das Eisen, Gelehrter. Du solltest das wissen.«
Tungdil musste grinsen. »Haben sie dich geschickt, um mich zum Festmahl zu überreden?«
»Nicht einmal Vraccas könnte das, warum sollte es dann in meiner Macht liegen?« Ingrimmsch schaute kurz nach den Gestirnen. »Sie funkeln nett, das gestehe ich ihnen zu. Aber sie sind nichts gegen Diamanten, die man aus schwarzem Fels gräbt. Komm wieder mit rein. Wir müssen über unseren Plan sprechen. Der König findet ihn gut.«
»Oh, du konntest den Mund nicht halten?« Er blickte den Krieger an. »Ich weiß, warum du das getan hast. Du willst sofort aufbrechen und hoffst, dass wir unterwegs auf Ushnotz und seine Orks treffen.«
Boïndil fuhr sich an den kahlrasierten Schädelseiten entlang und anschließend durch den Bart. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«, grinste er. »Komm, wir feiern zusammen mit meinem Bruder an der Esse, wenn es dir Recht ist. Mir steht der Sinn auch nicht nach Chorgesängen. Du kannst ihm erzählen, was wir vorhaben. Vielleicht taut das sein gefrorenes Blut auf und bringt ihn wieder auf die Beine.«
Zusammen wählten sie die Gänge, die sie an dem weiß brennenden Feuer der Esse Drachenbrodem ausspieen, vor der sie Boëndal ein Lager errichtet hatten. Tungdil setzte sich neben ihn und sprach zu dem kranken Zwerg, als wäre er bei Besinnung.
Die Hoffnung, Boëndals Lider würden sich beim Hören der Neuigkeiten überraschend öffnen, erfüllte sich an diesem Abend jedoch nicht.
Das Geborgene Land, Gauragar,
in der Hauptstadt des ehemaligen
Zauberreiches Lios Nudin, Porista,
6234. Sonnenzyklus, Frühling
Das Gesicht des Räubers, der Furgas bedrohte, lag unter einer Maske verborgen, doch die Stimme verriet ihn.
Furgas blieb stehen und stemmte die Arme in die Hüften. »Rodario, lass den Unsinn! Wenn die Wachen Andôkais dich...«
»Deine Börse!«, verlangte der Unbekannte und bewegte den Arm mit der Waffe. »Auf der Stelle!«
»Was denn, kein Ohʹ und keinen Reim? Für welche Rolle probst du gerade?« Er ging auf ihn zu. »Steck den Dolch weg, ehe uns jemand sieht und mir beistehen will.«
Der Räuber bewegte sich nicht, sondern fuchtelte bedrohlich mit seiner Waffe. Furgas wurde unsicher. Da er sein ungeborenes Kind noch sehen wollte, beschloss er, sich nicht auf einen Kampf einzulassen, sondern nahm den Beutel mit seinem Geld vom Gürtel und warf ihn dem Mann hin.
»Warum nicht gleich so?«, knurrte der und bückte sich, wie um seine Beute aufzuheben. Stattdessen riss er plötzlich die Arme hoch und lachte laut, die Maske vom Gesicht reißend. »Ha! Ich habe dich erwischt, mein Gutester!«, jubelte der vermeintliche Räuber, der sich tatsächlich als Rodario entpuppte. »Von wegen, ich sei ein schlechter Mime!«
»Ich wusste gleich, dass du es bist«, beharrte Furgas. Er hob den Beutel auf. »Was sollte das?«
Rodario begab sich in Positur, um seine Überlegenheit und seine vollste Befriedigung zur Schau zu stellen. »Eine kleine Heimzahlung. Für die Lästerei von euch beiden Turteltauben in der Werkstatt, während ich in meinem Gefängnis darbte und jedes eurer Worte anhören musste. Eigentlich wollte ich Narmora überfallen, da ihre spitze Zunge...«
»Danke den Göttern, dass du es nicht getan hast. Ich müsste mir ansonsten einen neuen Hauptakteur suchen.« Furgas pochte ihm gegen die Stirn und nahm ihm den Dolch ab. »Du hast so viel Verstand, warum versteckst du ihn zu manchen Gelegenheiten?«