Es begegnete ihnen niemand, den sie hätten fragen können, also kehrten sie in das erste Gasthaus ein, das sie fanden.
Der Wirt, ein haariger Mann um die vierzig Lenze mit den gelbsten Zähnen, die Tungdil jemals gesehen hatte, überschlug sich förmlich vor Höflichkeit. »Willkommen in Bergensstadt. Es ist mir eine Ehre, solch werte Gäste beherbergen zu dürfen. Ich gebe Euch meinen besten Schlafsaal«, verneigte er sich vor ihnen, die Hände, an denen Schmalz haftete, am Schurz abwischend. »Ihr werdet sicherlich gleich auf den Sonnenmarkt gehen?«
Die Zwerge runzelten die Stirn, sie kannten den Begriff der Menschen nicht.
»Aha«, machte Tungdil. »Ich verstehe jetzt, wo sich die Leute verstecken.« Sie folgten dem Wirt die knarrenden Stufen hinauf. »Kommt, ich erkläre es euch auf dem Zimmer.«
Während sie sich mit dem eilig gebrachten Wasser den Staub aus den Gesichtern wuschen, schilderte Tungdil ihnen, was ein Sonnenmarkt bei den Menschen bedeutete. »Es ist ein großes Fest mit allerlei Buden und Vergnügungen, Trödelhändlern und Krämern, Musik und Tanz. Boïndil und ich werden es uns ansehen; wenn es etwas taugt, gehen wir alle später noch einmal hin, damit ihr was zu erzählen habt, wenn wir zu Hause sind.«
Ingrimmsch bedeutete ihm, er gehe schon einmal nach unten. »Warte nicht auf mich. Wir trennen uns, so kommen wir schneller an die Neuigkeiten.«
»Sei mir nicht böse, aber ich bezweifle, dass du immer den rechten Ton triffst.« Er erinnerte noch ganz genau, wie eine Begegnung zwischen dem Zwerg und mehreren betrunkenen Menschen in einer Kneipe geendet hatte. Nur großem Glück und der Gnade Vraccasʹ hatten sie es zu verdanken, dass niemand getötet worden war.
»Keine Sorge, Gelehrter. Ich weiß schon, wie man mit den Langen spricht.« Ingrimmsch scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg. »Wir sehen uns, wenn die Dämmerung hereingebrochen ist.«
»Oder ich Hilfeschreie von Menschen höre«, murmelte Tungdil grinsend, während er die Tür hinter sich zuzog.
Die geräumige Stube war noch immer wie leer gefegt. Ein Gast, dessen Aufzug nicht in die Kaschemme passte, saß auf der Bank nahe der erloschenen Feuerstelle. Er trug weite, aufwendig geschneiderte Obergewänder und eine Pumphose aus teuren Stoffen; die dürren Beine steckten in Strumpfhosen. Die polierten Schnallen auf seinen affigen Schuhen blinkten silbern, und auf seinem schwarzen, nackenlangen Haar saß ein neckisches Hütchen. Er trug keinen Bart und roch blumigsüß wie ein Frauenzimmer.
Tungdil grinste breit. So etwas Albernes hatte er noch nie gesehen. Zu seinem Erstaunen sprang der Mann auf und eilte auf ihn zu.
»Endlich! Ich dachte schon, du tauchst nicht mehr auf«, empfing er ihn erleichtert. »Ich bin Truk Elius und soll dich hinbringen.« Ohne abzuwarten, wandte er sich um und ging zur Tür.
Der Zwerg kratzte sich am Bart. »Ich verstehe nicht. Was genau wollt Ihr?«
»Hinbringen, Unterirdischer. Deine Dienste werden verlangt«, sagte der Mann ungehalten. »Du bist spät dran. Man wird schon ungeduldig.« Er tippelte mit den spitzen Schuhen auf der Stelle.
»Ach so«, machte er. Sein Volk war bei den Menschen in erster Linie bekannt für das Schmieden, und ein fahrender Zwerg wie er wurde prompt für einen Handwerker gehalten. Der Mann musste blind sein, die Axt sprach sicherlich gegen einen Schmied. »Nun, ich bin ein wenig außer Übung«, gestand er. »Vielleicht wäre es besser...«
»Unsinn. Jeder Unterirdische, den ich kenne, beherrscht das Handwerk.« Die blauen Augen wurden schmaler. »Ah, du willst um deinen Lohn feilschen?! So geht das nicht, Unterirdischer. Du bekommst den gleichen Lohn wie alle anderen auch, oder ich kehre allein zurück und sage, dass du deinen Pflichten nicht nachkommen willst. Du bekommst keine Aufträge mehr, das sei dir gesagt!«
Tungdil beschloss, sich auf die Sache einzulassen. Auf das Schmieden verstand er sich, außerdem sollte es dabei möglich sein, Neuigkeiten zu sammeln, und er wollte nicht die Schuld daran tragen, dass die Bürger von Bergensstadt sein Volk mit Unzuverlässigkeit in Verbindung brachten. Diese Eigenschaft gebührte allein den Kobolden und Gnomen. »Na, schön«, willigte er ein. »Aber verlangt nicht zu viel von mir. Und man nennt mein Volk Zwerge, nicht Unterirdische.«
Elius lachte. »Nein. Du wirst ein paar Schläge brauchen, dann ist es wieder gut.«
»Ich habe kein passendes Werkzeug dabei«, fiel es Tungdil ein.
»Keine Sorge, Zwerg.« Der Mann deutete ruhelos auf die Tür. »Los jetzt!«
Sie eilten gemeinsam durch die Gassen und bewegten sich auf die Mitte der Siedlung zu. Tungdil trabte hinter Elius her und hatte seine liebe Not, dem Mensch mit den langen, dürren Beinen zu folgen.
Die Bürger, die ihnen begegneten, grüßten Truk Elius auffällig oft. Dabei bemerkte der keuchende Zwerg seinen Irrtum, »Truk« für den Vornamen gehalten zu haben. Es musste eine Rangbezeichnung sein, vermutlich gehörte er zur Administration König Brurons.
Die Gasse öffnete sich, wurde breiter und wuchs zu einer Straße. Er hörte die gedämpfte Unterhaltung von vielen hundert Stimmen, die ihnen aus weiter Entfernung entgegenschallte. Lachen und Musik mischten sich darunter, es klang wie ein heiteres Fest.
Truk Elius lenkte ihn um eine Ecke, dann stand er vor einer riesigen Menschenansammlung. Tungdil sah nur noch Hüften und Oberkörper, die wie eine lebendige Mauer vor ihm in die Höhe ragten. Es gab kein Durchkommen.
Er hatte nicht mit Elius gerechnet, der keinen Umweg machen wollte, um auf die andere Seite des Platzes zu gelangen. »Zur Seite«, schrie er. »Zur Seite, Volk von Bergensstadt! Macht Platz!«
Die Menge teilte sich gehorsam und formte ein Spalier für das seltsam anzuschauende Paar.
Der Zwerg ging weiter, bis sich sein Blick hob und er die breite Holzplattform entdeckte, auf deren Stufen sie geradewegs zusteuerten.
Auf der rechteckigen Erhöhung standen vier Gardisten um acht Menschen herum, die außer einem dünnen, groben Leibchen nichts weiter trugen. Ihre Hände steckten in Metallschellen, die Augen waren ihnen mit einem Stück Tuch verbunden worden.
Eine Hinrichtung, dachte Tungdil perplex. Die ungezwungene, fröhliche Stimmung trog nicht, die Bergensstädter feierten tatsächlich, aber sie feierten die Hinrichtung von acht Verbrechern. Es waren drei Frauen und fünf Männer, die ihres Todes harrten.
Truk Elius erklomm die Stiege; als er bemerkte, dass sein Begleiter stehen geblieben war, winkte er auffordernd. »Na, wirdʹs bald?«
Es war keine Abkürzung, die der königliche Beamte nahm. Und Tungdil sollte auch keinen Schmiedehammer führen.
Sie halten mich für den Henker! Er wich einen Schritt zurück. »Das ist ein Irrtum«, sprach er deutlich vernehmbar. »Ich bin kein Henker.«
Ein Raunen lief durch die Menge.
Der Truk kam mit weit ausholenden Schritten auf ihn zu. »Was hast du gesagt?«, zischte er. »Fängst du schon wieder an zu feilschen, Zwerg?! Es sei dir gesagt, dass die Meute Blut sehen will - entweder das von den Verurteilten oder deines.« Er suchte ein paar Münzlinge aus seinem Beutel und drückte sie ihm in die Hand. »Da. Das bekommst du von mir dazu. Und nun geh hoch und tu, was man von dir verlangt!«
»Ihr begreift es nicht«, unternahm Tungdil einen weiteren Versuch, die Verwechslung aufzuklären. »Ich bin kein Henker. Mein Name ist Tungdil Goldhand, ich...«
»Tungdil? Wieso denn Tungdil?« Der Beamte war nun ebenfalls überrascht. »Wir haben Bramdal den fahrenden Scharfrichter erwartet, der...«
Die Rufe der Menschen wurden lauter, fordernder, zorniger. Sie warteten ungern auf das Spektakel.
Elius zuckte mit den Achseln. »Seiʹs drum. Heiß, wie immer du heißen möchtest, und sei, wer immer du bist. Deine Axt ist gefragt.« Er packte ihn an der Schulter und wollte ihn aufs Podest zerren, doch Tungdil sträubte sich. »Ich werde dich gefangen nehmen, wenn du nicht mitkommst und ihnen die Schädel vom Hals haust«, drohte er.