»Ich will es nicht!«, beharrte der Zwerg. Wenn er den Beamten nicht davon überzeugen konnte, dass er keine Henkersdienste verrichtete, dann eben das Volk, vor dem sich Elius sichtbar fürchtete. Seine Beine trugen ihn vorwärts, die Stufen hinauf, das Podest entlang.
Die zu hunderten versammelten Städter jubelten auf, als sie ihn sahen. Ihre Vorfreude kannte keine Grenzen, die Gesichter waren zu Fratzen verzerrt, aus denen die Blutgier sprang. Tungdil beschlich der Verdacht, dass Elius die Wahrheit gesprochen hatte. Allem Anschein nach würde er nur dann die Bühne lebend verlassen, wenn er die Verurteilten köpfte. Von hier oben gab es weder für die acht Verurteilten noch für ihn ein Entkommen.
Der Richtblock stand in der Mitte. Dunkelbrauner, getrockneter Lebenssaft bedeckte das zerfurchte Holzstück, das die Spuren etlicher Fehlschläge trug. Die Axt mit der breiten Klinge, die zur Hinrichtung benutzt wurde, steckte zwei Schritte daneben in den Planken.
Eine der Frauen wurde nach vorn geschoben, der Herold verkündete unter leisem Trommelwirbel ihre begangenen Taten.
Der Zwerg erfuhr, dass er als Erstes eine untreue Gattin hinrichten sollte. Sie hatte die Trauerzeit um ihren verstorbenen Ehemann nicht eingehalten und sich zu früh mit einem neuen Liebhaber sehen lassen. Das war ihr Verbrechen. Kein Mord, kein Überfall. Nur Liebe. Liebe. Er musste an Balyndis denken.
Ein Gardist schob die Frau zum Richtblock und zwang sie auf die Knie. Jeder Handgriff saß. Er presste ihren Kopf auf das Holz, packte die langen Haare und wickelte sie auf der anderen Seite um eine Eisenstange. Damit lag der ungeschützte Nacken frei, und sie konnte weder den Hals noch den Kopf bewegen. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen, das Dröhnen der Trommeln schwoll an.
Jemand gab Tungdil einen Stoß ins Kreuz, sodass er nach vorn stolperte und gegen die Delinquentin taumelte. Durch den dünnen Stoff ihres Unterhemds fühlte er, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie weinte leise, aber um so herzzerreißender. Ihre Haut auf den Schultern und dem Rücken war jung und ohne Falten, viele Sonnenzyklen hatte sie nicht gesehen. Ihr Leben endete wegen eines zweifelhaften Gesetzes, wie Tungdil fand. Wenn die Menschen ihren Tod verlangen, sollen sie es selbst tun.
»Worauf wartest du?«, knurrte der Gardist. »Schlag zu! Du hast noch sieben weitere auf deiner Liste, Henker.«
»Ich bin kein verfluchter Henker! Mein Name ist Tungdil Goldhand.« Er reckte die Feuerklinge in die Höhe. »Diese Axt hat Nôdʹonn getötet und euch den Fluch des Toten Landes genommen. Dass ich hier oben stehe, ist ein Irrtum.« Er zog die Richtaxt aus den Planken und hielt sie dem Soldaten hin. »Mach es selbst, wenn du sie sterben sehen möchtest«, sagte er mit lauter Stimme. »Ich tue es nicht!«
Ein Aufschrei fegte über den Platz. Die Städter drängten nach vorn, die Masse geriet in Aufruhr. Sie verlangten nach Blut.
»Da siehst du, was du angerichtet hast, verdammter Unterirdischer!« Truk Elius schaute bang über den Platz. Lange würden die Soldaten die Menge nicht mehr in Schach halten. Wortlos hielt ihm Tungdil den Schaft der Axt hin. »Ich? Nie im Leben. Ich bin Truk, kein Scharfrichter.« Das Gesicht mit dem affigen Hütchen erschien dicht vor Tungdils Augen, er roch das Blumenduftwasser. »Du wirst das Verlies lieben, Zwerg. Falls du lebend von hier wegkommst.«
Ein neuerlicher, hundertfacher Ruf brandete von unten herauf, der Beamte und Tungdil drehten sich um.
Ein zweiter, sehr muskulöser Zwerg humpelte heran. Er trug schwarze Kleidung, eine dunkelbraune Lederrüstung und schwere Stiefel. Er trug eine lederne Gesichtsmaske. Sein hellblonder Bart hing in langen Zöpfen bis auf die Brust.
Seine Schritte dröhnten laut über die Planken. »Ich wurde aufgehalten.« Ohne zu zögern nahm er die schwere Richtaxt aus Tungdils Hand und stapfte zum Richtblock. Er nahm nicht einmal Maß, sondern schlug aus der Bewegung heraus zu.
Die Schneide fuhr pfeifend durch die Luft, die beidhändig geführte Klinge stieß herab und kappte den Lebensfaden der Frau. Der Kopf fiel polternd auf die Latten, Blut schoss in hohem Bogen aus dem Stumpf. Die Spritzer reichten bis zu den johlenden ersten Reihen der Bergensstädter, der Torso der Frau zuckte einige Male und rutschte dann seitlich vom Holzklotz.
Der schwarz gekleidete Zwerg schnitt die Haare ab, um den Kopf von der Haltestange zu lösen und ihn der Menge zu zeigen. Die Waffe hatte die Wirbel samt Haut, Sehnen und Muskeln glatt durchtrennt. Der Zwerg beherrschte das Scharfrichterhandwerk meisterlich.
»Mach, dass du fortkommst«, wurde Tungdil vom Truk leise angegiftet.
Tungdil ließ es sich nicht zweimal sagen und stieg vom Podest, um etwas abseits des Platzes auf den Zwerg zu warten, den der Mensch Bramdal genannt hatte. Die Münzen gab er dem Beamten nicht zurück. Schließlich war es Gold.
Die Bürger jubelten in unregelmäßigen Abständen noch sieben Mal nacheinander auf, dann setzte heitere Musik ein. Die Menschen lachten, feierten und tanzten unbeschwert, während die abgetrennten Häupter an den Fahnenmasten neben der Hinrichtungsbühne emporgezogen wurden.
Es dauerte nicht lange, und der Zwerg gesellte sich zu ihm. Tungdils Blicke wanderten an ihm hinab. An einigen Stellen der Rüstung und den Stiefeln haftete das Blut der Exekutierten, ansonsten war es dem Henker gelungen, von größeren Flecken verschont zu bleiben. Die Maske baumelte an seinem Gürtel.
»Ulkige Geschichte. Hätte niemals gedacht, dass man mich eines Sonnenumlaufs mit einem anderen Zwerg verwechselt«, gestand er ihm. »Ich bin Bramdal Meisterklinge«, stellte er sich vor und wartete auf eine Erwiderung.
Tungdil musterte die Züge des Zwergs, der einem grausamen Handwerk nachging. Er musste etliche Zyklen älter sein als er. Die hellbraunen Augen wirkten trotz seiner Tätigkeit und den zahlreichen Toden, die sie sehen mussten, keinesfalls bekümmert oder traurig.
Tungdil räusperte sich. »Warum verdienst du auf diese Art dein Geld?«, fragte er und deutete mit dem rechten Arm auf die Masten, wo die Köpfe im Wind pendelten.
»Was gibt es daran auszusetzen? Es ist ein Handwerk wie Schmieden oder Backen. Komm«, meinte Bramdal freundlich, der seine hellblonden Haare unter einem schwarzen Kopftuch zusammengefasst hatte. Den Bart hatte er ausrasiert; erst auf Höhe des Kinns und rund um den Mund sprossen die Haare. »Wir unterhalten uns, wo es weniger laut ist.«
Sie gingen durch die Gassen.
»Welchem Stamm gehörst du an, Tungdil Goldhand?«, begann der Zwerg unterwegs das Gespräch. Er redete mit weicher, sanfter Stimme. »Was gibt es Neues aus deinem Reich? Man begegnet selten einzelnen unseres Volkes, und wie ein Händler siehst du nicht aus. Oder bist du ein Ausgestoßener auf Wanderschaft?«
»Bist du denn ein Ausgestoßener?« Tungdil schätzte sich nun doch glücklich, dem Henker begegnet zu sein. Ließ er die unangenehmen Umstände beiseite, eröffnete sich mit ihm nun eine Möglichkeit, die Geisterzwerge schneller zu finden.
Er lachte. »Ja und nein. Ich habe ein neues Zuhause, abseits der Stämme. Abseits von denen, die mich verstießen, weil ich mich den Regeln nicht beugen wollte. Ich lud absichtlich Schuld auf mich und wählte die Verbannung.« Er spielte mit den geflochtenen Bartsträhnen. »Ich kehre nicht mehr zurück. Und du?«
Zuerst hatte Tungdil dem anderen alles erklären wollen und welche Mission ihn durch eine glückliche Fügung nach Bergensstadt führte, aber dann entschied er, dass es besser wäre, Bramdal in dem Glauben zu lassen, ihn habe das gleiche Los getroffen. »Ich liebe eine Zwergin, die den Bund mit einem anderen eingehen wollte, obwohl ihr Herz für mich schlägt. Ich habe ihn im Streit erschlagen.« Es fiel ihm leicht, so zu tun, als stimmte das, was er behauptete. Zu leicht. Hastig schaute er weg.
Der Henker nickte. »Wieder zeigt sich, dass nicht alle Gesetze unseres Volkes einen Sinn ergeben. Gelegentlich müssen sich Dinge ändern.« Er beobachtete Tungdil eingehend. »Was würdest du sagen, wenn ich dir von einem Ort erzähle, an dem Clanbestimmungen und Familieneide nichts gelten?«