Er hielt vor der Tür eines Gasthauses an, öffnete sie und ließ Tungdil den Vortritt; so gab er ihm Gelegenheit, über die Worte nachzudenken. Sie nahmen neben dem Kamin Platz, der Scharfrichter bestellte zwei Biere.
»Es gibt diesen Ort tatsächlich?«, hakte Tungdil nach, sobald er einen kräftigen Schluck Bier genommen hatte.
Bramdal nickte. »Ja, Tungdil Goldhand. Zwerge leben dort in einer Gemeinschaft von Gleichen, es gibt keine Bevormundung, keine althergebrachten Regeln.«
»Aber wie kann denn ein Zusammenleben ohne Ordnung gelingen?«
»Es gibt Regeln. Der König und die Königin wachen darüber«, räumte der Zwerg ein. »Aber sie sind allgemeiner Natur, sie beziehen sich auf Vergehen gegen die Gemeinschaft oder Einzelne und wie sie zu ahnden sind. Die Bindung an Clan-Gesetze ist für immer abgeschafft worden. Wir sind alle Kinder des Schmieds, frei im Handeln und Tun.«
Tungdil betrachtete Bramdal über den Rand des Kruges hinweg. »Weshalb bist du dann unterwegs und schlägst den Menschen die Köpfe ab?«
»Ich verdiene mir gelegentlich etwas Geld, was sonst?«, gab er gleichgültig zurück. »Vor nicht allzu langer Zeit, als es das Tote Land noch gab, waren meine Dienste sehr begehrt. Du weißt schon, die Toten kehrten zurück, wenn man ihnen nicht den Hals brach oder den Kopf abschlug. Und ich verstehe es als einen Teil meiner Pflicht, die Menschen zu schützen.«
»Das wirst du mir erklären müssen. In meinen Ohren klingt es eigentümlich, die Menschen im Namen von Vraccas zu schützen, indem du sie tötest, wie es auch die Orks und anderen Scheusale tun.«
»Du irrst dich, Tungdil. Ich schütze sie vor sich selbst. Ich entsorge den Abschaum, das ist meine Auslegung des göttlichen Auftrages. Ich töte nicht wahllos wie die Orks, sondern diejenigen, die den Menschen gefährlich wurden oder werden können. Es sind verurteilte Verbrecher, denen ich mit einem schnellen Schlag eine Fahrt auf die andere Seite beschere. Gesetzesbrecher sind für die Menschen ebenso bedrohlich wie Orks.«
»Eine Witwe, die ihre Trauerzeit nicht eingehalten hat, kann eine Bedrohung sein?«
»Dass sie das Gesetz gebrochen hat, das ist die Bedrohung. Über den Sinn der Menschengesetze mache ich mir keine Gedanken.« Bramdal leerte seinen Krug. »Man braucht nicht viele Gesetze, aber an die muss man sich halten. Da sind die Zwerge, Menschen und Elben gleich.« Er legte den Kopf schief. »Du hast mir eine Frage nicht beantwortet«, fiel es ihm ein.
»Welche war es?«
»Von welchem Stamm du bist.«
»Vom...« Er stockte, weil er nicht wusste, was er antworten sollte. Das Bier, die schmerzhaften Gedanken an Balyndis... sie machten seine Seele noch schwerer.
»Wer so lange braucht, um seine Herkunft offen zu legen, wird wohl ein Dritter sein.« Der Henker sagte es ohne einen anklagenden Unterton in der Stimme. »Du musst mir nicht antworten, behalte deinen Stamm für dich. An dem Ort, von dem ich sprach, fällt es ohnehin nicht ins Gewicht.«
»Soll das heißen«, Tungdil lehnte sich vor, »ihr habt Zwerge vom Stamm Lorimburs bei euch aufgenommen?«
Bramdal lachte laut, er freute sich über das ungläubige Staunen. »Wir nehmen Zwerge in unsere Gemeinschaft auf, die ausgestoßen wurden, und wenn sich darunter einer von denen befindet, von denen du sprachst, dann soll es so sein. Hält er sich an die Regeln, ist er uns willkommen. Tut er es nicht...« Seine Hand legte sich an den Griff der Axt.
Mit jedem Satz, den der Henker sprach, wuchs Tungdils Verwirrung. Er würde den Worten erst Glauben schenken, wenn er es mit eigenen Augen sähe. »Ich möchte diesen Ort kennen lernen«, bat er ihn. »Wie gelange ich dorthin? Was muss ich tun, um eingelassen zu werden?«
Bramdal beschrieb ihm den Weg, der zu einem Weiher führte, der nach Tungdils Schätzungen in der Nähe des Einstiegs zum Tunnelsystem lag. »Binde dir Gewichte um und springe hinein. Du musst auf den Grund sinken, nur dann kann sich das Wunder ereignen und dich zu den Freien Kindern des Schmieds bringen...«
»Die Freien? So nennt ihr euch?«
»Nichts trifft es besser.« Er bemerkte einen Mann, der zwei Tische weiter von ihnen saß. »Ich bin gleich wieder zurück«, entschuldigte er sich, nahm seinen Rucksack und stand auf, um hinüberzuhumpeln und leise mit dem Fremden zu reden.
Was Tungdil von der Wegbeschreibung in das verborgene Höhlenreich der Freien Zwerge halten sollte, wusste er nicht. Zwerge und Wasser, das vertrug sich nicht, wenn das Nass über eine Tiefe von einer Handbreit hinausging.
Er erinnerte sich ganz genau daran, wie sehr die Zwillinge es gehasst hatten, Flüsse zu durchqueren. Es lag daran, dass sie wie beinahe alle ihres Volkes an den Fluch der Göttin Elria glaubten, der jeden Zwerg, der sich außerhalb der Gebirge in Seen, Tümpel, Teiche oder Flüsse begab, unweigerlich den Tod darin finden ließ.
Wie bekomme ich Ingrimmsch dazu, sich freiwillig mit Gewichten in einen Weiher zu stürzen, wo er schon einen Bogen um jede Pfütze macht? Tungdil sank gegen die Lehne und grübelte. Eines musste er den Geisterzwergen zubilligen: Auf diese Art hatten sie ihren Eingang sicher vor den restlichen Zwergen geschützt. Das wird eine echte Herausforderung. Er beobachtete, wie der Mann Bramdal ein paar Münzen herüberschob, dafür erhielt er einen in ein Tuch gewickelten Gegenstand. Darauf kehrte der Henker an den Tisch zurück.
»Was war das?«, wollte Tungdil neugierig wissen.
»Es ist nicht gut, wenn du es weißt. Nur die abergläubischen Menschen können damit etwas anfangen«, erteilte ihm der andere Zwerg in freundlichem Tonfall eine Abfuhr.
Tungdil sparte sich weitere Versuche, die Lippen des anderen waren gewiss versiegelt. »Da du schon lange bei den Freien lebst, kannst du mir sagen, ob es Untergründige bei euch gibt?«, folgte seine Zunge seiner Eingebung. Vielleicht hatte es einen aus dem geheimnisvollen Volk der Jenseitigen Zwerge durch eine Fügung ins Geborgene Land und zu den Freien verschlagen. Er fuhr mit dem Finger am Rand des Kruges entlang und malte mit der Feuchtigkeit die Rune, die er in der Höhlenwand gesehen hatte, auf den Tisch. »Kennst du sie?«
Bramdal hob die Augenbrauen. »Untergründige? Was soll das sein?«
Ich hätte es wissen müssen. »Vergiss es, es ist nicht von Bedeutung. Wohin werden dich deine Füße nun tragen? Es sind unsichere Zeiten, Orks ziehen nach Norden, um über den Nordpass zu flüchten«, warnte er ihn. »Wir haben ihre Späher gesehen.«
Der Scharfrichter wackelte mit dem Schopf, die Bartsträhnen pendelten hin und her. »Danke, aber mein Weg führt mich in den Süden, die nächste Stadt verlangt nach mir. Sie haben die Verliese voller Verurteilter, die auf ihre gerechte Strafe warten.« Er reichte ihm die Hand. »Ich habe mich sehr gefreut, dir begegnet zu sein und dir geholfen zu haben«, sagte er feierlich. »Vraccas möge dir auf deinen Wegen beistehen. Vielleicht kreuzen sich unsere Pfade eines Umlaufs.«
Bramdal nahm seinen Rucksack auf und hinkte zur Tür hinaus. Bergensstadt begrüßte ihn mit einem Regenguss, er schlug die Kapuze hoch und verschwand aus dem Eingang.
»Wisst Ihr zufällig, was der Scharfrichter dem Mann vorhin verkauft hat?«, erkundigte sich Tungdil beim Wirt, als er die leeren Krüge abräumte. Dieser beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm die Antwort ins Ohr. Die Augen des Zwergs wurden groß. Bramdal verschacherte Leichenteile der Hingerichteten.
»Sie können die sonderlichsten Dinge bewirken. Kerzen aus dem Talg der Totschläger schützen vor Krankheiten, und der kleine Finger eines Diebes bewahrt besonders sicher vor Blitzschlag und Brand. Ich schwöre, es wirkt.« Er deutete mit den leeren Krügen zur Decke. Tungdil entdeckte ein vertrocknetes, verschrumpeltes schwarzes Ding, das mit viel Vorstellungskraft als Fingerkuppe zu erkennen und neben einen Balken genagelt worden war. »Meine Schenke ist bei Gewitter noch nie getroffen worden, aber in meiner Nachbarschaft hat der Blitz schon zweimal eingeschlagen.«