Tungdil schüttelte sich angewidert, beglich rasch die Zeche, ehe das Stück toter Mensch auf ihn herabfiel, und verließ den Schankraum, um seinen Begleitern die Neuigkeiten zu berichten. Nun war es viel leichter, die Geisterzwerge aufzuspüren. Vorausgesetzt, er konnte sie überreden, in einen Weiher zu steigen und auf den Grund zu sinken.
Während er durch die Gassen lief, bemerkte er, dass der Henker nicht gesagt hatte, weshalb er zum Heimatlosen geworden war. Das Wort »Mord« geisterte durch Tungdils Gedanken.
Allmählich verebbte das Gelächter.
Boïndil wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, die anderen Zwerge lagen auf den Betten und rangen nach Luft. »Du machst prima Scherze, Gelehrter«, griente er. »Nun ohne Flachs: Wo soll der geheime Eingang sein?«
Tungdil seufzte. »Was ich euch eben gesagt habe, entspricht genau den Worten von Bramdal.«
Die Heiterkeit seines Freundes verschwand augenblicklich. »Ich soll in einen verdammten Tümpel steigen? Mit zusätzlichen Gewichten, um den Grund zu erreichen?« Er lehnte sich vor und roch an Tungdils Atem. »Ah, Bier. Jetzt verstehe ich es. Du hast einen über den Durst getrunken und...« Er bemerkte das Kopfschütteln und den ernsten Ausdruck auf Tungdils Gesicht. »Bei Vraccas, ich werde nicht hineinsteigen! Elrias Fluch allein ist schon tödlich, aber es ihr einfacher zu machen, indem wir uns mit Gewichten selbst ersäufen, das tue ich sicherlich nicht.« Er kreuzte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn; der schwarze Bart zitterte. »Niemals.«
»Es kann doch ein Dritter gewesen sein, der vorgab, den Weg zu kennen«, warf einer ihrer Gefährten ein. »Er hofft, dass wir ihm Glauben schenken und uns das Wasser verschlingt.«
Boïndil fuhr herum. »Genau!«, pflichtete er ihm bei. »Eine List! Eine Täuschung. Vermutlich hockt er hinter einem Busch und wartet, bis wir abgesoffen sind, um unsere Ausrüstung mit einem langen Haken vom Grund heraufzuziehen.«
»Oder ein riesiger Fisch lauert darin«, schlug ein anderer vor.
Tungdil verzog das Gesicht. »Kennt ihr einen Zwerg, der in einem Fluss ertrunken ist?«
»Oh, ich habe genug Geschichten von diesen Unglückseligen gehört«, winkte Ingrimmsch ab.
»Ja, das glaube ich dir. Aber kanntest du einen Zwerg oder die Familie eines Zwerges, der in einem Fluss, einem Bach oder in etwas, in dem sich Wasser sammelte, ums Leben kam?«, setzte er hartnäckig nach. »Um das Schwarzjoch herum gab es genügend Möglichkeiten für die Göttin, sich etliche von uns zu holen, aber ich habe nichts darüber vernommen.« Er blickte in die faltigen Gesichter mit den langen Bärten. »Einer von euch etwa?«
Sie schwiegen, betrachteten die Runen auf ihren Waffen, sahen zur Decke oder zupften an der Wäsche.
»Ich gehe dennoch nicht hinein«, beharrte Boïndil trotzig. »Wir können uns den Tümpel anschauen. Aber ist er nicht wenigstens bis zu den Knien ausgetrocknet, schlage ich vor, dass wir von dort zum Einstiegsort laufen und uns an das halten, was wir ursprünglich geplant haben.«
»Von mir aus. Lasst mich ein wenig ruhen, dann können wir aufbrechen.« Tungdil zog die Stiefel aus, legte sich auf das mit Strohmatten gepolsterte Bett und döste ein wenig. Er gab es auf, seine Begleiter überzeugen zu wollen. Inzwischen meldeten sich auch bei ihm ernsthafte Zweifel an dem Rat des Henkers an.
Es klirrte leise, als sich Ingrimmsch an das Kopfende begab. »Ich sollte dir vielleicht erzählen, dass mir von einem Händler berichtet wurde, er habe Schweineschnauzen gesehen.«
Tungdil öffnete die Lider. »Wo und wann?«
»Er sagte, er habe sie aus Osten kommend gesehen, als wären sie aus Urgon marschiert. Angeblich haben sie sich in schnellem Marsch nach Norden auf das Graue Gebirge zubewegt.«
Tungdil sprang vom Bett, nahm die Karte aus dem Rucksack und entrollte sie auf dem Bretterboden, damit alle sie sahen. Seine Finger zeichneten den Weg nach.
»Sie haben demnach südlich von Dsôn Balsur einen Schwenk nach Osten gemacht und es östlich entlang der Grenze zu Urgon passiert«, mutmaßte er. »Damit sind sie nicht zwischen die Fronten der Albae und Elben geraten, die bei Âlandur kämpfen. So hat sie niemand gesehen, der ihnen gefährlich werden konnte.« Ushnotz legte für einen Ork eine beachtliche Schläue vor. »Wo hat er sie gesehen?«
Boïndil tippte auf eine Stelle auf der Karte. Tungdil schätzte die Entfernung zum Eingang ins Graue Gebirge auf weniger als 400 Meilen. Die Orks waren gute Läufer; das Land Gauragar präsentierte sich zwar hügelig, aber letztlich ohne nennenswerte Berge oder Hindernisse, welche sie aufhielten. Was gut für ihn und seine Gruppe war, nützte leider auch den längeren Beinen ihrer Feinde.
So oder so wurde es knapp, wenn sie rechtzeitig mit Unterstützung in ihre neue Heimat zurückkehren wollten. Er rollte die Karte zusammen und verstaute sie, schlüpfte in seine noch warmen Stiefel und warf sich den Umhang über.
»Wir ziehen weiter«, entschied er. »Von jetzt an rasten wir nur, wenn es unbedingt sein muss.«
Am folgenden Sonnenumlauf breitete sich ein unerklärliches Unwohlsein in den Zwergen aus. Es war nichts Körperliches, keine Magenverstimmung oder Ermüdung, eher ein ungutes Gefühl, das ihnen auf die Stimmung schlug. Auch wenn das Land um sie herum ergrünte und ihnen zeigen wollte, dass das Gras anstatt dem Grau des Toten Landes seine alte Farbe zurückerhalten hatte, die Zwerge wären am liebsten umgekehrt und nicht weiter nach Süden vorgedrungen.
Schritt für Schritt stieg die Gereiztheit, und als der Weg zu allem Überfluss in einen blühenden Wald führte, verging ihnen sogar die Lust am gelegentlichen Singen. Missmutig stapften sie auf dem überwucherten Pfad entlang.
Tungdil ahnte, warum es ihnen so erging, hütete sich jedoch, das Rätsel zu lüften. Die Strecke, die sie nahmen, führte sie durch das untergegangene Lesinteïl, das Reich der Nordelben.
Es war schon vor langer Zeit gegen die Albae gefallen, die sich damit begnügt hatten, die hier lebenden Elben abzuschlachten, um sich gleich darauf um die dichteren Wälder Âlandurs und die Elben der Goldenen Ebene zu kümmern.
Aus der Goldenen Ebene war Dsôn Balsur geworden, doch Liútasils Elben hatten sie niemals vollständig unterwerfen können. Tungdil vermutete, dass sie sich inzwischen auf dem Boden des einstigen Lesinteïl befanden und das Elbenland sie die alte Abneigung gegen Zwerge spüren ließ. Oder aber der unsägliche Schrecken des grauenvollen Mordens hatte sich tief in der Erde eingegraben und drang daraus hervor.
Mit seiner Geheimnistuerei nahm es ein jähes Ende, als der stets wachsame Zwilling zwischen Schlingpflanzen und üppigen Sträuchern die Reste einer Statue am Wegesrand entdeckte.
»Bei Vraccas, das ist ein Abbild Sitalias!«, machte er die anderen auf seinen Fund aufmerksam. »Was hat denn die Elbengöttin hier mitten im Gestrüpp verloren? Sollen wir uns so weit verlaufen haben, dass wir in Âlandur stehen?«
Natürlich richteten sich die Augen der Gruppe auf Tungdil, den Anführer und Kartenleser der Expedition. »Es kann sein, dass wir in Lesinteïl sind«, deutete er vorsichtig an.
»Na, das lobe ich mir«, schnaubte Ingrimmsch und trat gegen die aus feinstem Marmor gehauene Göttin. »Nicht nur, dass man von mir verlangt, in einen Weiher zu steigen, nein, wir besichtigen auch noch das Reich der Spitz... Elben.« Er schüttelte sich und strich sich den Bart glatt. »Nun wundert es mich nicht, dass sich meine Haare ständig sträuben. Alles in mir sträubt sich.«
»Jetzt ist es heraus, du hast dich beschwert, und wir können weitergehen.« Tungdil marschierte los. »Die Elben sind nicht mehr unsere Feinde, vergesst es nicht.«