»Bist du blind?«, herrschte Ingrimmsch ihn an, der an seine Seite robbte. »Wir sind an einem Ort, an dem sich das Tote Land...«
Tungdil riss ein Büschel Gras aus. »Es ist grün, nicht grau! Es gibt kein Totes Land hier.« Ein Pfeil schwirrte über sie hinweg. »Ruhig jetzt. Zum Weiher.« Er schob sich vorsichtig über den Boden, darauf bedacht, nicht zu viele Halme zu bewegen und den Schützen seine Position zu verraten.
Was wollen sie hier?, rätselte er fieberhaft. Was gibt es in Lesinteïl, aus dem die Albae Nutzen ziehen könnten? Dass es sich um einen versprengten Spähtrupp handeln könnte, ergab keinen Sinn, die Gefechte wurden in Âlandur und Dsôn Balsur geschlagen, nicht so weit abseits im Norden. Womöglich war in dem vernichteten Elbenreich ein Geheimnis verborgen, von dem sich die Albae in den Kämpfen gegen ihre Verwandten einen Vorteil erhofften.
Das Gras raschelte immer lauter, als befände sich ein ganzer Trupp Albae um sie herum. Tungdil hörte auf dem langen Weg zum Weiher noch fünf lang gezogene, dumpfe Todesschreie.
Seine Wut brodelte in ihm, er rang mit dem Verlangen, aufzuspringen und mit der Feuerklinge gegen die Albae anzurennen. Sein Verstand riet ihm davon ab und bewahrte ihm das Leben.
Für die meisterlichen Schützen bedeutete es ein Leichtes, einen heranstürmenden Zwerg mit Pfeilen zu spicken. Ihre Bogen verliehen den markanten Geschossen genügend Wucht, um Kettenhemden und dünneres Metall zu durchstoßen. Dagegen half Deckung, sonst nichts. Er bat Vraccas inständig darum, dass er den Überlebenden seines Trupps zur gleichen Einsicht verhalf.
Plötzlich schien der Gott Samusin sich seiner Aufgabe des Ausgleichs zu entsinnen. Er ließ den Wind drehen, sodass er vom Weiher den Albae entgegenblies.
Das brachte Tungdil auf den Einfall, seinen Feuerstein zu zücken und das Gras hinter sich in Brand zu stecken.
»Legt Feuer!«, schrie er und freute sich alsbald über die züngelnden Flammen, die sich an den alten, trockenen Halmen labten und sich geschwind ausbreiteten. Qualmwolken stiegen auch an anderen Orten auf, die Brise fachte das Feuer an und jagte es den finsteren Albae entgegen.
Im Schutz von Flammen, Qualm und Gras kroch Tungdil weiter, bis er an den Weiher gelangte. Ein rascher Blick nach rechts und links ließ ihn zwei Zwerge entdecken, vom Rest und Ingrimmsch sah er nichts.
Er wollte ihnen eben zurufen, dass sie auf den Steg laufen sollten, als zehn Schritte von ihnen entfernt ein schwarzer Schatten aus dem Grasmeer brach.
Es war ein gesattelter Stier, dem sein Besitzer einen Kopfschutz aus Tionium verliehen hatte; selbst die Hörner waren vom Metall umhüllt. Sein dunkles Fell dampfte, es roch nach verbranntem Horn, da er mitten durch das Feuer gelaufen war, um zu ihnen zu gelangen.
Was er von den Zwergen wollte, zeigte er deutlich. Er drehte sich ihnen zu, der breite Hals senkte sich, mit dem Huf scharrte er in der weichen Erde und schnaubte angriffslustig, während der Schweif hin und her peitschte.
»Los, zum Steg.« Tungdil nahm die Feuerklinge vom Rücken, auch wenn er wusste, dass dieses Vieh schwer aufzuhalten war. Er schätzte sein Gewicht auf mehr als fünf Zentner; das Tier schien keine Unze Fett an sich zu haben und aus reinen Muskeln zu bestehen. »Der Weiher ist unsere einzige Rettung.« Sie liefen los.
Die rot glühenden Augen des Stiers verfolgten sie. Er öffnete das Maul zu einem lauten Brüllen und zeigte ihnen seine scharfen Reißzähne, dann trabte er ihnen hinterher. Auf der Hälfte der Strecke beschleunigte er, die Hufe wirbelten den Dreck hoch und donnerten ankündigend. Noch ehe sie die kleine Anlegebrücke erreicht hätten, würde er sie eingeholt haben.
»Hussa, komm her, schwarze Kuh!« Wie aus dem Nichts hopste Boïndil aus dem Schutz des Grases, schnappte sich den Schwanz des Stiers und packte zu, die Füße fest in den aufgewühlten Boden gerammt.
Der Stier zog ihn hinter sich her, wobei die Zwergenstiefel tiefe Furchen rissen, dann blieb er stehen und wollte sich brüllend umdrehen, um den frechen, furchtlosen Zwerg anzugreifen.
»Dir werde ich es zeigen, unsere Leute anzufressen!«, schrie Ingrimmsch und riss ein Beil aus dem Gurt. Die Schneide hieb eine klaffende Wunde in den Hinterlauf. »Mach schon, Gelehrter! Ich halte euch den Rücken frei!«
Tungdil versuchte, durch die lodernde Flammenwand, die sich mittlerweile gebildet hatte, die Schützen der Albae auszumachen. Als er niemanden sah, wagte er sich zusammen mit den beiden Zwergen auf den Steg, der ihnen keinerlei Deckung vor den tödlich genauen Pfeilen bot. Aus den Augenwinkeln heraus verfolgten sie, wie Boïndil einen gefährlichen Tanz mit dem Stier wagte. Alles Bocken und Drehen half nichts, der Zwerg hing wie eine Klette an dem Schweif und folgte den Bewegungen.
»Ich habe schon ganz andere Viecher erledigt«, stieß er hervor. »Was immer du bist, du wirst es nicht mehr lange sein.« Das Beil hackte sich immer wieder in die Beine und hinterließ Wunden, aus denen dunkelrotes Blut floss; schließlich knickte das Tier mit dem Hinterleib ein. Das zornige, heisere Brüllen galt seinem Bezwinger. »Jetzt schneide ich mir ein feines Stück aus deinen Rippen«, kündigte er an.
»Vorsicht! Sie...« Aufschreiend brach der Zwerg neben Tungdil zusammen, und noch im Fallen bohrte sich ein zweiter Pfeil neben dem ersten in seinen Rücken. Röchelnd ging er zu Boden und war auf der Stelle tot.
»Pass auf!«, warnte Tungdil den anderen, verstaute die Axt auf dem Rücken und packte den Toten an den Schultern, um ihn in die Höhe zu reißen und als Schutz vor sich zu halten.
Der Sicht beraubt, hörte Tungdil, wie auch sein anderer Weggefährte den Pfeilen zum Opfer fiel. Fünf Mal sirrte es, gefolgt vom hellen Klirren des Kettenhemds und dem unwirklichen Geräusch, mit dem sich die Spitze und der Schaft in den Leib schoben. Es platschte laut, als der Zwerg ins Wasser fiel.
Tungdil wagte nicht, den Kopf zu heben und über den Toten hinweg zu spähen, also stolperte er hastig rückwärts, um ans Ende des Stegs zu gelangen. »Boïndil, du musst vom Ufer aus ins Wasser waten«, rief er so laut es ging. »Komm nicht über den Steg!«
Ingrimmsch stand neben dem Stier und hob das Beil mit beiden Händen, die Klinge zielte auf den massigen Nacken des Tieres. »Ich gehe überhaupt nicht in den Tümpel«, schrie er zurück und schlug zu. »Zuerst mache ich die Kuh...«
Die gewaltigen Muskelstränge spannten sich, der Kopf des Stiers zuckte unvermittelt herum, und das lange Horn traf den Zwerg vor den Bauch.
Boïndil hob es von den Füßen, er wurde vier Schritt weit durch die Luft geschleudert und schlug klatschend auf die schwarze Oberfläche des Weihers. Mit einem leisen Glucksen folgte ihm seine Waffe. Er tauchte nicht wieder auf, Blasen stiegen nach oben.
Tungdil verstand den unfreiwilligen Flug seines Freundes als Eingreifen von Vraccas und machte sich bereit, ebenfalls ins Wasser zu springen, da vernahm er schnelle Schritte auf dem Steg.
Er ließ den Toten ein Stück sinken, um zu schauen, wie dicht sie aufgeschlossen hatten. Im selben Moment traf ihn ein Pfeil in die rechte Schulter.
Alle Kraft wich aus seinem Arm, sein zwergischer Schild sank etwas nach unten und gab noch mehr von ihm preis.
Wieder sandte der Alb ein Geschoss auf die Reise, und es fand sein Ziel in Tungdils Brust. Er fiel hart und schob aufstöhnend den Toten von sich herunter. Mitte des Weihers oder nicht, das Wasser bedeutete die einzige Rettung vor seinen gnadenlosen Verfolgern.
Die Albae kamen immer näher.
Er erkannte eine heraneilende Albin mit einer Augenmaske, ein Stück schwarze Seide machte das Gesicht unkenntlich. Sie rief ihm etwas zu und hob im Laufen eine sichelartige Waffe, die ihn an Narmoras erinnerte, um sie nach ihm zu schleudern.