Es war der stürzende Stern! Er hat die Erde berührt, mutmaßte Boëndal angesichts der Welle, die durch das ansonsten so unerschütterliche Gebirge lief. Er vermochte sich nicht vorzustellen, welche Auswirkungen das Beben auf die Behausungen der Ersten hatte, wie viele Opfer und Verletzte es unter den Zwergen gab.
Das Grollen verebbte, das Zittern ließ nach und legte sich schließlich ganz. Dennoch wagten sie kaum zu atmen und warteten angespannt, was sich als Nächstes ereignete.
Ein beißender Gestank reizte ihre Kehlen, er mischte sich mit dem Staub der zerstörten Bauwerke und dem Rauch von schwelendem Feuer, das zwischen den Ruinen aufflackerte.
Die Hitze war mit dem sterbenden Himmelskörper verschwunden, es schneite wieder, als wäre nichts geschehen. Die eintretende Stille gaukelte Friedlichkeit vor, doch es war die Stille nach dem Sturm. Der Tod hatte seine reiche Ernte eingefahren und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen.
»Bei Vraccas«, stöhnte sein Helfer leiderfüllt und hilflos wie ein Zwergenkind.
Boëndal verstand ihn sehr gut. Sein Volk warf sich ohne zu zögern gegen die größte Übermacht und verteidigte die Durchgänge des Geborgenen Landes mit dem Leben; seine Äxte, Beile und Hämmer nahmen es mit den abscheulichsten Ungeheuern auf, die ihnen das Böse sandte, doch gegen einen solchen Gegner musste es unweigerlich verlieren. »Niemand hält ein Gestirn auf, wenn es fällt. Nicht einmal die Götter, wie du gesehen hast«, tröstete er ihn.
Ein Blick über den Rand der Brücke zeigte Boëndal, dass der Sockel des neunten Turmes starke Beschädigungen aufwies; Risse von der Breite eines ausgestreckten Armes durchzogen ihn und breiteten sich leise knisternd aus. »Rasch hinüber, ehe der Turm hinter uns einbricht und uns mit in die Tiefe reißt!« Eilends machte er sich an die Überquerung der Brücke, und die Hand voll Zwerge vom Stamm der Ersten folgte ihm.
Mitten auf der Brücke klatschte ihm ein großer Klumpen Schnee in den Nacken. Er schüttelte sich und wunderte sich sehr, dass einer der Zwerge sich ausgerechnet jetzt wie ein kleines Kind benahm und nach ihm warf.
Beim zweiten Treffer, der seine linke Schulter mit pudrigem Weiß bedeckte, drehte er sich ungehalten um. Er würde dem Scherzbold schon sagen, was er davon hielt! »Wer von euch...«
Mitten in seinen Satz hinein leerte der Nachthimmel dicke weiße Klumpen über ihn, die Brücke und die anderen Zwerge aus. Es dauerte ein Blinzeln, bis Boëndal die wachsenden Schneebälle und das immer lauter werdende Rumoren zuordnen konnte.
Keinen von seinen Begleitern traf die Schuld an der ungebührlichen Schneeattacke. Das Rote Gebirge bewarf ihn!
Als Boëndal sich der Bergwand zuwandte, stockte ihm das Herz. Der Einschlag des gefallenen Sterns, der sicherlich viele Meilen entfernt geschehen war, löste etwas aus, das es nur über der Erde gab und das er auf seinen Wachen im heimatlichen Blauen Gebirge schon hunderte von Malen beobachtet hatte: Der Weiße Tod ritt den Steilhang herab! Oben, knapp unterhalb des Gipfels, hatte ihn der Stern mit seinem Eisregen und seinen Erschütterungen auf das Ross gesetzt. Jetzt preschte er grollend in voller Wandbreite auf sie zu und riss alles mit sich, was ihm im Wege war.
Die aufgewühlten Schneemassen stürzten einem Wasserfall gleich hinab. Wer oder was sich ihnen widersetzte, gehörte ihnen, wurde zermalmt, mitgerissen, nach unten gedrückt, erstickt.
»Lauft!« Boëndals Füße bewegten sich wie von selbst. Er rutschte erneut auf dem Eis aus, jemand hielt ihn am Haarzopf und zerrte ihn in die Höhe. Zwei Zwerge packten ihn unter den Achseln und zogen ihn vorwärts. Sie alle taumelten und rutschten mehr als sie liefen. Angst ergriff die tapferen Herzen.
Wenige Schritte vor dem Portal, das soeben geöffnet wurde, kam der Weiße Tod über sie.
Triumphierend warf er sich von dem Felsüberhang und brach wie ein hungriges Raubtier über sie herein. Donnernd und tosend packte er sie mit seinem eisigen Leib und schleuderte sie von der Brücke.
Die Worte, die Boëndal auf den Lippen hatte, verloren sich in dem Dröhnen. Sein Mund füllte sich mit Schnee, er ruderte hilflos mit den Armen und bekam einen Schild zu fassen, an den er sich wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz klammerte.
Er fiel tief und schnell, das sagte ihm das Ziehen im Magen. Das Weiß um ihn herum verhinderte, dass er sich in irgendeiner Weise zurechtfand, und die große Fläche des Schilds wirkte wie eine Schaufel und zog ihn hinab.
Der Weiße Tod hatte bald genug von ihm. Er türmte mehr Schnee um ihn herum auf, und der Druck auf seinen Körper raubte ihm die Luft zum Atmen.
Schließlich verlor der Zwerg das Bewusstsein. Sein Verstand driftete ins Dunkel, und seine Seele machte sich bereit, in die Ewige Schmiede von Vraccas zu ziehen, wo es wenigstens warm sein würde.
I
Das Geborgene Land, Königreich Gauragar,
300 Meilen nördlich des Schwarzjochs,
6234. Sonnenzyklus, Spätwinter
Ein Schweißtropfen rann durch das fettige Haar über die Stirn und suchte sich seinen Weg durch Schmutz und mit Ruß vermengten Talg, der das grünhäutige Gesicht an manchen Stellen so dick wie eine Messerklinge bedeckte. Er kroch über den Rücken der breiten Nase, sickerte auf die Oberlippe und wurde von einer schwarzen Zunge gierig abgeleckt. Stoßweise drang der Atem aus dem hässlichen Mund; bemalte Hauer standen daraus hervor und wiesen ihren Besitzer als hochrangigen Anführer aus. Die breiten Kiefer öffneten sich.
»Runshak!« Ushnotz brüllte seinen Untergebenen herbei.
Der Rottenführer spurtete an der Kolonne von eilig marschierenden Orks vorbei, um zu seinem schnaufenden Fürsten zu gelangen, der auf einer Erhebung neben dem Zug zum Stehen gekommen war.
Seit der Schlacht am Schwarzjoch, die sie gegen die Heere der Menschen, Elben und Zwerge verloren hatten, befanden sie sich auf hastigem Rückzug gen Norden, um in das Graue Gebirge und weiter zur Pforte am Steinernen Torweg zu gelangen. 850 mörderische Meilen, bis sie in ihrem neuen Reich einträfen.
Aber erst galt es, die vor ihnen befindlichen Nebenbuhler zu beseitigen.
Runshak lief den Abhang hinauf und kam neben Ushnotz zum Stehen, der einmal einen großen Teil des weit im Süden gelegenen Orkreichs Toboribor sein Eigen genannt hatte. »Haben wir sie eingeholt?«
»Sieh«, wies Ushnotz ihn an und deutete auf die Ebene, die sich zwischen den sanften Hügeln Gauragars erstreckte. Sie maß gut und gern anderthalb Meilen im Durchmesser; das ablaufende Tauwasser der Hügel hatte schmale Gräben in der Erde hinterlassen, die von oben betrachtet wie dunkle Linien aussahen. Sie trugen das Wasser an den östlichen Rand, wo es versickerte. Bewachsen von grünendem Gras und einigen laublosen Büschen sowie Bäumen, bot die Fläche keinerlei Schutz gegen den Wind. Oder Feinde.
Dort unten wimmelte es von schwarzen Flecken, welche den einst unberührten Einschnitt bevölkerten.
Runshak schätzte ihre Gesamtzahl auf mehr als zweitausend. Als befänden sie sich in allergrößter Sicherheit, hatten sie ihr Lager aufgeschlagen und sogar aus dem austreibenden Holz mehrere Feuer entzündet, deren Qualmwolken weithin sichtbar in den klaren Himmel stiegen.
Ushnotz legte eine Hand an die breite Stirnplatte, um die Augen vor den hellen Sonnenstrahlen zu schützen, und schaute auf die Flecken. Die breiteren von ihnen waren Orks und die schmaleren ihre kleineren Verwandten, die Bogglins. An Kraft und Statur den Orks weit unterlegen, waren Bogglins umso flinker und beweglicher; aber sie waren auch feige, was man ihnen mit ein paar gelegentlichen Hieben austreiben musste. »Nordorks und Bogglins. Die Dämlichen haben sich gefunden und zu einem Bündnis der Dummheit zusammengeschlossen«, grunzte er verächtlich. Nôdʹonn hatte sie angeschleppt, um eine gewaltige Streitmacht gegen die Menschen aufzustellen. Doch der vertriebene Fürst Toboribors hatte am Schwarzjoch bald herausgefunden, dass die Nordorks im Kopf zu wild waren, um gute Krieger zu sein. Sie handelten wie gierige Wölfe, während seine Orks folgsame, aber nicht minder schlagkräftige und weitestgehend gezähmte Hunde waren. Und Bogglins taugten schon gar nichts...