»Ich lege mein Leben in deine Hand, Vraccas«, raunte er, brach benommen die Schäfte der Pfeile ab und wälzte sich zur Seite über den Rand des Stegs hinaus. »Lass Bramdal keinen Lügner gewesen sein.«
Er spürte, dass er fiel.
Die dunkle, erlösende Oberfläche des Gewässers kam näher und näher, bis sein Sturz kurz vor dem Eintauchen unvermutet gebremst wurde.
Jemand hielt ihn an seinem Waffengurt gepackt.
Das Geborgene Land, im Südwesten Urgons,
Hauptstadt Dreigipfelburg,
6234. Sonnenzyklus, Frühling
»Ich bin hier, um das aufrichtige Mitgefühl meines Onkels, König Lorimbas Stahlherz aus dem Clan der Steinmalmer vom Stamme Lorimbur, für den Verlust deines Neffen zu überbringen. Das Königreich hat einen jungen, fähigen Herrscher verloren.« Romo Stahlherz deutete eine Verbeugung gegenüber dem Mann an, vor dessen Thron er stand.
Der Thron wiederum befand sich in einem bescheidenen Palast, den er höchstens Kastell genannt hätte, und dieser Palast lag auf dem höchsten der drei Hügel, auf dem die Hauptstadt Urgons, Dreigipfelburg, erbaut worden war.
Holz war in dem bergigen Land kostbar, und so errichteten die Menschen nach Möglichkeit alles aus Stein. Die Stadt sah aus, als bestünde sie aus lauter kleinen, bunten Würfeln, gedeckte Dächer gab es keine. Den oberen Abschluss bildeten Steinplatten, auf denen Dinge wie Wäsche, Früchte oder Fleisch zum Trocknen ausgelegt wurden.
Die Farbvielfalt rührte von den unterschiedlichen Gesteinsarten her, die beim Errichten der Gebäude zum Einsatz kamen; mitunter trugen sie absichtliche, geometrische Muster. Der Zwerg schätzte es, sich in soliden Mauern aufzuhalten und dabei von Bergen umgeben zu sein, die denen des Schwarzen Gebirges durchaus ebenbürtig schienen.
»Ich wollte niemals König sein.« Der gedrungene, dickliche Mann, der wohl um die 45 Zyklen alt war, deutete auf das Bild eines jungen Mannes mit langen blonden Haaren. »Das ist der König von Urgon. Lothaire...« Seine Stimme überschlug sich, er verstummte und verbarg das schiefe Gesicht mit den Händen; Tränen quollen zwischen den Fingern hervor.
Romo beherrschte sich, um seine Verachtung für einen solchen Gefühlsausbruch nicht offen zu zeigen. So betrachtete er die Einrichtung, bis Belletain sich gefangen hatte.
Der König wischte sich die salzigen Tropfen aus dem kurzen, dunkelblonden Vollbart. »Verzeih mir. Der Schmerz ist zu groß. Mein geschätzter Bruder starb vor sieben Zyklen, als wir gegen die Trolle zogen, und mir«, er pochte sich gegen den Helm, »zertrümmerte ein Hieb den Schädel. Seitdem habe ich ein windschiefes Gesicht und muss den Helm tragen, oder mein Kopf fällt auseinander wie ein faules Stück Obst. Als wäre es nicht schlimm genug, ließen die Götter auch meinen Neffen fallen. Ich habe ihn geliebt wie einen Sohn.«
Das war das Stichwort, auf das Romo lauerte. Er hatte längst erkannt, dass ihm hier nicht der gleiche Widerstand wie bei Prinz Mallen entgegenschlug. Mit der passenden Melodie tanzte Belletain ganz gewiss nach seiner Flöte. »Mit Verlaub, nicht die Götter. Die übrigen Zwerge waren es, die ihm das Verderben brachten.«
Müde hob der Herrscher den Blick und betrachtete seinen Gast genauer. »Einer wie du?« Die Hand legte sich an den Schwertgriff. »Dann komm her, damit ich dich töte.«
»Nein, ich spreche vor allem von den Vierten, die im Nordosten deines Reich sitzen und sich an den Schätzen des Braunen Gebirges ergötzen, die eigentlich dir zustünden.« Romo näherte sich dem gebrochenen Mann auf dem Thron, dessen Augen hohl und leer auf ihn starrten. Er wäre einfach zur Einsicht zu bringen. »Die Zwerge haben viel zu lange gewartet, bis sie sich in den Kampf eingemischt haben. Wären sie bei Porista dabei gewesen, wie sie es später am Schwarzjoch hielten, so lebte Lothaire noch.«
»Und du und dein Stamm? Ihr seid doch die Zwergenhasser...«
»Aus diesem Grund ist es mir erlaubt und ein Leichtes, die Bande der Verlogenheit zu brechen und dir die Wahrheit über die feinen Zwerge zu sagen«, nahm er den Faden auf, ehe der König mit seinen Gedanken in eine Richtung driftete, die den Dritten nichts nutzte. »Sie würden niemals zugeben, dass sie diese Wunderaxt von Anfang an besaßen und sich bloß hervortun wollten, um als Retter des Geborgenen Landes dazustehen. Die Menschen«, er kam noch näher, »sollten in Bedrängnis geraten. Dein Neffe gehört zu den Opfern eines abgekarteten Spiels.«
Belletain glotzte ihn an. »Ich falle nicht auf deine Worte herein«, lachte er abrupt los. »Wieso sollten sie...«
»Anerkennung und Macht«, hielt ihm Romo sogleich entgegen. »Sie verlangten nach Anerkennung, weil sie von den Menschen ihrer Meinung nach nicht den gebührenden Dank für ihre Dienste an den Pforten ins Geborgene Land bekamen. Jetzt haben sie es geschafft, mit einem Mal sind sie die Helden und Retter der Völker, denen sie nun Ratschläge erteilen wollen. Es dauert nicht mehr lange, und die Mörder von tausenden von Menschen sitzen an jedem Hof, um die heimlichen Herrscher des Geborgenen Landes zu werden. Sogar die Elben sind auf sie hereingefallen.« Er betrachtete das Bildnis von Lothaire. »Wir, die Zwerge Lorimburs, haben unsere Bestimmung nicht vergessen. Wir sind die bescheidenen Torwächter, nicht die Herren der Burg.«
Seine Rede fiel auf fruchtbaren Boden, das sah er im Gesicht des Königs.
»Ich muss nachdenken«, sagte Belletain gequält. »Deine Worte ergeben einen so schrecklichen Sinn, dass sie mir in meinem Kopf wehtun.« Er hielt sich den Schädel, und der Zwerg sah, wie sich die Platten unter der Haut durch die leichte Berührung bewegten. »Geh, Zwerg. Ich lasse nach dir schicken, wenn ich...« Er schrie laut, die Hände krallten sich um die Lehne, und er sackte auf seinem Thron in sich zusammen.
Die Türen flogen auf, drei Heiler liefen herein und kümmerten sich um den König. Einer hielt seinen Kopf, der andere löste eine Helmplatte, darunter kam ein Stück Verband zum Vorschein. Der dritte löste den Stoff, und Romo sah staunend zu, wie er mit einer dünnen Nadel ein Loch in die Haut stach, aus dem augenblicklich ein feiner Strahl rosafarbenen Wundwassers spritzte, das plätschernd in eine bronzene Schale rann.
»Geht in Euer Quartier«, bat der Heiler, der den Kopf Belletains stützte. »Es wird dauern, bis er wieder mit Euch sprechen kann.«
Der Zwerg brummte seine Zustimmung, drehte sich um und verschwand hinaus. Er war sich sicher, in Urgon bald einen Verbündeten gegen seine Verwandten und den zweiten Pflock des Plans seines Onkels eingeschlagen zu haben.
Das Geborgene Land, Gauragar,
in der Hauptstadt des ehemaligen Zauberreiches
Lios Nudin, Porista,
6234. Sonnenzyklus, Frühling
Narmora eilte durch die Palastanlage, sie nahm wenig Rücksicht auf das ungeborene Leben in ihrem Leib, weil ein anderes, das ihr noch mehr bedeutete, sich in höchster Not befand.
Keuchend hielt sie sich die Seite, sie rang nach Atem, das Kind in ihr wirkte sich auf ihre Ausdauer aus. Sie spürte die winzigen Füße, die von innen gegen ihren Bauch traten. Es war seine Art, gegen die ungewohnte Rennerei zu rebellieren.
Djerůn wachte vor dem Zimmer, in dem sich Andôkai um die beiden verletzten Männer kümmerte.
»Lass mich durch«, verlangte sie und wollte an ihm vorbei nach der Türklinke greifen, aber das Gebirge aus Stahl wich nicht zurück. Regungslos blockierte es durch seine Massigkeit den Eingang. »Andôkai«, rief Narmora wütend. »Sagt Eurem Leibwächter, er soll mich durchlassen, oder ich schwöre Euch, dass ich einen Weg finde, ihn zu passieren.«
Durch die Türen erklang ein gedämpfter Ruf. Augenblicklich erwachte Djerůn aus seiner Starre und machte ihr Platz; seine Rüstung gab dabei seltsam ächzende Geräusche von sich, als stünde das Eisen unter enormer Spannung.