»Versteh es nicht falsch, Myrmianda, doch das besprechen wir besser mit deinem König«, sagte Tungdil, obgleich er sich unwohl dabei fühlte, der Zwergin, die ihm zwei Pfeilspitzen aus dem Leib gezogen hatte und die ihm zudem ausnehmend gut gefiel, eine Abfuhr erteilen zu müssen, was den Hintergrund ihres Besuchs anging.
Einen Augenblick wirkte sie enttäuscht, doch dann lächelte sie wieder, was sein Herz zum Pochen brachte. »Nun, nach dieser Antwort nehme ich an, dass es doch kein Zufall war.«
Sie packte ihre chirurgischen Gerätschaften wieder zusammen. Tungdil sah schlanke Messer, Haken, Sägen und andere Gegenstände, die aussahen, als täten sie an einem gesunden Körper sehr weh. Myrmianda rollte sie in einem Tuch zusammen, knotete die so entstandene Rolle mit Lederbändern zusammen und verließ den Raum.
»Gute Besserung«, wünschte sie ihm, ehe sie verschwand.
Dafür kam ein weißhaariger Zwerg herein, die Haut blass wie Leinen und die Augen braun wie Ackererde. Er trug ein Kettenhemd, und an seinem Gurt baumelte eine Handaxt.
»Vraccas möge eure Lebensesse noch lange brennen lassen«, grüßte er sie wohlwollend und kam näher. »Ich bin Gemmil Schwielenfaust und von den Freien auserkoren, ihr derzeitiger Regent zu sein.« Tungdil und Boïndil nannten ihre Namen, und Gemmil schien gleichermaßen etwas damit anfangen zu können.
»Seid willkommen. Ich vermute, ihr seid aus einem bestimmten Grund durch den Weiher zu uns gelangt?«
»Bramdal Meisterklinge gab uns den Hinweis, wie wir zu euch kommen«, holte Tungdil zu einer längeren Geschichte aus. Er berichtete von der Wiederauferstehung des Zwergenreiches im Grauen Gebirge, vom Zusammentreffen mit dem Henker, was dieser über die Ausgestoßenen erzählt hatte und was ihnen am Weiher widerfahren war. »Doch nimm meinen Dank von drei Zwergenstämmen, denen du in den Stollen beistandest.« Er verneigte sich, so gut es eben mit der Verletzung möglich war. »Und meinen Dank, dass du mit uns vor der Esse im Reich der Fünften gegen die Horden Nôdʹonns kämpftest.«
»Ich habe deine Botschaft gelesen, die du uns in den Stollen hinterlassen hattest.« Gemmil lachte fröhlich. »Wir mögen die Ausgestoßenen der Zwergenreiche sein und unseren eigenen Weg gehen, doch wir sind Kinder des Schmieds und durften nicht zulassen, dass das Geborgene Land an den verrückten Magus fällt.«
»Es freut mich zu hören, dass du und deine Untertanen...«
»Es sind keine Untertanen, Tungdil«, berichtigte ihn der Regent auf der Stelle. »Sie sind frei, doch wir haben erkannt, dass es wichtig ist, einen zu bestimmen, der in Notzeiten Entscheidungen trifft und umsetzt. Zurzeit fällt mir diese ehrenvolle Aufgabe zu, doch in drei Zyklen kann ein anderer von uns an der Reihe sein.«
Ingrimmsch prustete los. »Ihr wählt die Könige, wie es euch gefällt?« Er konnte es einfach nicht glauben. »Das sind ja schöne Sitten.«
»In der Tat. Es sind schöne Sitten«, bestätigte Gemmil, dem es nichts ausmachte, wie Boïndil zu ihm sprach.
»Ihr seid in den Kampf gezogen, um das Geborgene Land zu schützen. Dürfte ich darum bitten, dass ihr es ein weiteres Mal tut?«, sagte Tungdil rasch, damit Ingrimmsch, dessen Mund sich bereits öffnete, nichts weiter erwidern konnte. Sodann schilderte er die Gerüchte über ein heranziehendes, seltsam verändertes Orkheer zusammen mit den Ereignissen am Steinernen Torweg. »Ushnotz und die Südorks versuchen, den Durchgang in ihren Besitz zu bekommen. Gemmil, unser neues Zwergenreich ist zu schwach, um gegen den Sturm von mehreren tausend schwer zu tötenden Bestien zu bestehen! Und wenn der eine Ork, der uns ins Jenseitige Land entkam, eine zweite Horde Scheusale aus dem Norden zum Torweg führt, steht der Fall des Reiches bevor, ehe wir es aufbauen konnten. Wir brauchen dich und die starken Arme deiner Zwerge. Niemand kann schneller zu uns gelangen als ihr.«
Das Gesicht des Regenten hatte sich verfinstert, die weißen Brauen lagen so eng aneinander, dass sie wie eine durchgehende Linie aus Salz wirkten. »Es klingt ernst, was du sagst. Der Verlust der Feuerklinge wird den Kampf nicht erleichtern. Wenn sie auf dem Grund des Weihers liegt, wird sie für immer verschollen bleiben.«
»Na, was sollʹs. Schmieden wir einfach eine neue. Wir wissen, wie es geht«, versuchte Boïndil seinen Freund aufzubauen und das Missgeschick kleiner zu reden. »Und was wollen die Albae schon mit ihr? Für sie ist es eine Axt, mit der sie nicht einmal umgehen können. Sich selbst werden sie damit wohl nicht ausrotten wollen.«
»Das nicht. Aber unserem Volk wird sie fehlen«, erwiderte Tungdil nachdenklich. »Sie ist ein Zeichen für die Überlegenheit über die Scheusale, ein Meisterwerk der Schmiedekunst. Ich fürchte, Gemmil hat Recht. Ihr Verlust wird unsere Leute härter treffen als ein Gefecht gegen die überzähligen Feinde.« Er wandte sich an den Regenten. »Ich bitte dich, im Namen unseres Königs Glaïmbar Scharfklinge und allen Völkern des Geborgenen Landes: Lass uns in diesen Stunden nicht allein fechten. Deine Krieger werden uns neuen Mut geben und die Zweifel vertreiben, die aus dem stärksten Kämpfer ein zitterndes Bündel machen können.«
Gemmil brauchte nicht lange, um eine Entscheidung zu fällen. »Ich werde Boten aussenden, um die Nachrichten, die ich von dir hörte, zu verbreiten. Sobald ich eine Streitmacht zusammengestellt habe, sende ich sie dir ins Graue Gebirge.« Er strich sich über den Bart. »Sollten die Orks angreifen, bevor meine Leute euch erreicht haben, müsst ihr durchhalten. Aber wir werden kommen. Kehrt zurück und berichtet eurem König von meinen Worten.«
»Und was meinst du, wie viele werden uns zu Hilfe eilen?«
»So viele, wie ich finden kann«, antwortete Gemmil ausweichend. »Myr, einige andere Heiler und eine Eskorte werden euch begleiten, damit ihr heil ankommt.« Sein Blick galt Tungdils Verband. »Du würdest gegen die Albae nicht noch einmal überleben.
Das könnte ich nicht verantworten.« Seine Hand legte sich auf den Eisenriegel der Tür.
»Gemmil, darf ich dich um noch etwas bitten?« Der König nickte auffordernd. »Ich habe dir davon erzählt, dass wir das Reich der Fünften neu errichten. Wird es Freiwillige aus euren Reihen geben, die bei uns bleiben und Teil unserer Gemeinschaft werden wollen?«
»Zurück in die starren Formen der Zwergenreiche?« Der Zwerg dachte nach. »Es ehrt dich, dass du an die Ausgestoßenen denkst. Wir schlagen zunächst die Schlacht gegen die Orks. Aber ich biete dir jetzt schon an, dass du danach bei uns leben kannst, solange du möchtest, um die Unterschiede zwischen uns und den Stämmen kennen zu lernen. Danach wirst du einsehen, warum sich die wenigsten bereit erklären, dorthin zu gehen, wo ihnen Unfreiheit droht.«
»Blödsinn!«, regte sich Boïndil laut auf. »Was für einen ausgemachten Blödsinn dieser König erzählt.« Er stapfte durch den Raum, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, geradewegs auf Gemmil zu. »Bei uns lebt kein einziger Zwerg in Unfreiheit!«
»So? Nun, du darfst tun und lassen, was du möchtest?«
»Sicher«, kam es bockig von dem Zwilling.
»Du darfst dich also gegen die Meinung deines Clanoberhauptes stellen, wenn er offensichtlich Unrecht hat?«
»Wir haben nur Clanoberste, die... gescheit sind«, versuchte er es mit einer Ausflucht und schaute flehentlich zu Tungdil. Sein heißes Temperament beförderte ihn unentrinnbar in einen toten Stollen.
»Und es erscheint dir sinnvoll, Rivalitäten zwischen den Clans aufrechtzuerhalten, auch wenn man den Grund des Zwistes schon lange vergessen hat?«
»Es wird schon einen Grund gegeben haben«, brummte er verdrossen.
»Aber dann darfst du wenigstens mit der Zwergin den Ehernen Bund eingehen, die du liebst?«
Ingrimmsch kreuzte mürrisch die Arme vor der Brust, schwieg und gab auf.
»Meine Fragen dienten nicht dazu, dich vor deinem Freund zu beschämen, sondern um dir drei von vielen Gebieten aufzuzeigen, wo die Dinge im Argen liegen.« Gemmils Gesicht zeigte keinerlei Bosheit, sodass Tungdil wie auch Ingrimmsch ihm Glauben schenkten. »Wir haben Ausgestoßene bei uns, die sich gegen diese Dinge zur Wehr setzten. Ihnen wurde schmerzlich bewusst, dass sie ihre Ideen teuer bezahlen mussten. Die Zwerge, die besorgt um ihre Macht sind, welche ihr Clan oder ihre Familie in den Zyklen zuvor erlangt hat, haben nicht eher geruht, bis sie einen Vorwand gefunden hatten, die Verbannung über die Unglücklichen zu verhängen.«