Boïndil hatte nach längerem angestrengtem Nachdenken eine Lücke gefunden, in die er gern hieb. »Wir wollen nicht vergessen, dass du jeden aufnimmst, der verbannt wurde. Auch die Mörder und diejenigen, die sich Schlimmeres zu Schulden kommen ließen als das falsche Wort zur falschen Zeit. Ist das gut für deine Gemeinschaft der Freien?«
Der Regent zeigte nun doch, dass ihm der Disput nicht länger behagte. »Wir fragen niemals nach den Gründen für die Verbannung. Wer ihn uns aus freien Stücken nennt, darf es gern tun. Für uns zählt lediglich, dass ein Zwerg sich bei uns einfügt und zum Erhalt der Gemeinschaft beiträgt, in welcher Form auch immer.« Er öffnete die Tür. »Vergesst nicht, dass sie ihr Leben bald auch mit und für euch aufs Spiel setzen. Stirbt einer der Verbrecher im Kampf um das Geborgene Land, hat er meiner Ansicht nach alle Schuld vor Vraccas beglichen und kann mit erhobenem Haupt an die Esse treten, anstatt die Kohle für andere schleppen zu müssen.« Laut warf er die Tür ins Schloss.
»Hussa, da hat er gekniffen«, lachte Ingrimmsch zufrieden. »Das hat ihm gar nicht geschmeckt, dem schlauen Herrn König.«
»Es war unklug, ihn zu reizen. Wir sind auf ihn angewiesen.« Tungdil stimmte Gemmils Ausführungen in einigen Punkten heimlich zu; Traditionen zu bewahren war nicht immer gut. Er rutschte von seiner Liege und stellte sich neben den Freund, der ihm eine Decke umhängte. »Aber unsere Mission scheint von Erfolg gekrönt zu sein. Damit ist wenigstens der Tod unserer Begleiter nicht umsonst gewesen.«
Sie knieten sich vor dem Feuer nieder, das in dem kleinen Kamin brannte und für angenehme Wärme sorgte, und beteten zu ihrem Gott, damit er die Gefallenen gnädig in der Ewigen Schmiede aufnähme.
Tungdils Gedanken schweiften bald zu den Ausgestoßenen.
Er hätte sehr viel dafür gegeben, einen Blick auf eine Stadt von ihnen zu werfen. Hatten sie ihren eigenen Baustil entwickelt, oder blieben sie dem Althergebrachten treu? Diese und Dutzende von anderen Fragen mussten vorerst unbeantwortet bleiben, mindestens solange, bis die Schlacht gegen die letzte große Orkhorde des Geborgenen Landes geschlagen war. Sein Entschluss, durch dieselbe Tür wie Gemmil zu schreiten und in das geheime Reich zu gehen, sei es auch nur für wenige Sonnenumläufe, stand fest.
Sein Wissensdurst setzte sich dort durch, wo ein Zwerg wie Ingrimmsch angewidert verlangte, in sein Heimatgebirge zurückzukehren. Er fand die Vorstellung spannend, Neues zu erkunden und daraus zu lernen. Eine solche Zange beispielsweise, wie die Helfer der Chirurga sie benutzt hatten, um das Kettenhemd zu sprengen, sah er zum ersten Mal.
Sein Freund hatte das Gebet beendet, er stand auf und schlenderte zur Nische, wo man etwas zu essen für sie bereitgestellt hatte. Hungrig schlug er die Zähne ins Brot und winkte nach Tungdil.
»Komm schon, du musst auch was essen«, sagte er undeutlich mit vollem Mund und schaffte es tatsächlich, Brösel in seinem Bart zu verteilen. »Es wird kein leichter Rückmarsch mit deinen Verletzungen. Aber du wirst von Myrmianda gut versorgt werden.«
Wie gut, dass mich die Pfeile trafen, dachte er unwillkürlich und sah das Gesicht der Chirurga vor sich. Sogar ihr Wangenflaum war schlohweiß, mit einem leicht silbrigen Einschlag...
Das schlechte Gewissen überkam ihn, hielt ihm anklagend die Züge von Balyndis und sein erst kürzlich gegebenes Treueversprechen vor. Es gilt nichts mehr, sie hat einen anderen, mit dem sie durchs Leben geht, sagte er sich. »Ja. Sie wird schon dafür sorgen, dass ich auf den Beinen bleibe«, gab er leichthin zurück und gesellte sich zu Boïndil, um die Speisen zu kosten.
»Kochen können sie ganz gut«, gestand Ingrimmsch den Freien zu. Seine Wangen drohten zu platzen, so voll gestopft hatte er sie. »Dennoch ist mir nicht ganz wohl dabei, Seite an Seite mit einem Zwerg zu kämpfen, der vielleicht wegen Mord oder Totschlag aus seinem Stamm verstoßen wurde.« Er biss herzhaft in ein Stück Käse, das einen Geruch verströmte, der sogar stinkende Orks betäubt hätte. »Es war rechtens, dass sie verbannt wurden.« Er hörte auf zu kauen und schaute zu Tungdil. »Es war doch rechtens oder, Gelehrter?«, vergewisserte er sich.
Tungdil nickte schwach. Dann täuschte er vor, den Mund voll zu haben, und labte sich an dem Krug mit kräftigem Schwarzbier.
In Wahrheit brachten ihn die Ausführungen Gemmils zum Sinnieren.
Leider ergaben einige Aussagen tatsächlich Sinn - jedenfalls für ihn, der es gewohnt war, bei Menschen zu leben, die gern über etwas stritten und es aufgrund ihrer Stellung als Gelehrte gewohnt waren, selbst die unerschütterlichsten Dinge in Zweifel zu ziehen. Stillstand hatte es bei Lot-Ionan niemals gegeben. Traditionelle Zwerge glichen eher den Gebirgen, in denen sie lebten: starr, unbeweglich, beharrend.
Boïndils Kiefer mahlten langsamer als vorher, seine Augen starrten abwesend auf die Wand, auch er schien mit Nachdenken beschäftigt. »Ich frage mich«, sagte er unvermittelt, »ob es Vraccasʹ Wille ist, dass wir das Feuer der Veränderung aus der Esse der Verbannten hinüber ins Graue Gebirge tragen, damit auch wir anders denken, oder ob es eine Prüfung für unseren Glauben ist.«
Tungdil hielt seine Verwunderung nur schwer im Zaum. Er hatte den Zwilling eher dem Lager zugerechnet, das niemals an der alten Ordnung rütteln würde. Und dann eine solche Frage! »Ich kann es dir nicht beantworten.« Er nahm einen Schluck und machte eine unachtsame Bewegung. Der brennende Schmerz erinnerte ihn an die Löcher in seinem Leib, und er stellte den Krug fluchend ab. »Sind wir vorerst einfach glücklich darüber, dass wir Unterstützung bekommen. Alles andere ergibt sich schon.«
Boïndil wischte sich den Mund ab und rülpste laut. »Was denkst du, wie groß ihr Reich ist, Gelehrter? Zehn Meilen? Fünfzig Meilen? Und wie viele Kämpfer kann uns Gemmil schicken?« Er schenkte sich Bier nach und füllte auch Tungdils Humpen auf. »Ich sage, es werden nicht mehr als dreihundert.«
»Das würde vielleicht ausreichen. Wir könnten uns darauf beschränken, die Orks mitsamt ihrer Sturmleitern in die Tiefe zu stürzen und ihnen mit Steinen die Schädel zu knacken.« Er stieß mit Ingrimmsch an. »So oder so, nach dem Gefecht gegen uns wird es keine mehr von ihnen geben...«
»Bis auf die Schweineschnauzen in Toboribor«, hakte Boïndil nach. »Sie sind viel zu weit von uns entfernt, als dass wir einen raschen Ausflug zu ihnen unternehmen könnten. Dann wird Prinz Mallen das Vergnügen ganz allein haben.«
»Du würdest am liebsten dorthin, nicht wahr? Ich bin ehrlich gespannt, wann deine Kampfgier einmal versiegt«, bemerkte Tungdil kopfschüttelnd, wenn er es auch nicht ganz ernst meinte. »Selbst wenn du ein alter zahnloser Zwergengreis von siebenhundert Zyklen geworden bist, sehe ich dich immer noch in die Schlacht ziehen.«
»Ich werde keine siebenhundert Zyklen erleben, Gelehrter. Ich werde früher den Tod finden, dafür wird ein Pfeil sorgen oder eine Axt oder ein Speer.« Er sagte dies in einer abgeklärten Weise, die Tungdil einen Schauder über den Rücken trieb. »Damit du das nicht falsch verstehst, ich sehne mich nicht nach dem Sterben, das ist vorbei. Nach dem Verlust meiner Smeralda, da wäre ich am liebsten ebenfalls auf der Stelle gestorben, aber jetzt danke ich Vraccas für jeden Sonnenumlauf, den ich erlebe. Aber wenn mein Leben endet, soll es heldenhaft und glorreich sein, wie es Bavragor vergönnt war.« Er prostete Tungdil zu und leerte den Humpen bis auf den Grund. »Auf Bavragor Hammerfaust und alle, die für die Feuerklinge und das Geborgene Land starben!«, rief er laut.