»Dein eigenmächtiges Handeln, Ondori, verlangte nach einer harten Strafe«, maßregelte sie eine sanfte Albinnenstimme, »doch dein Erfolg lässt uns den Zorn auf dich vergessen.«
»Ihr seid zu gütig, Nagsar Inàste«, bedankte Ondori sich und beobachtete, wie der schwarze Handschuh die Axt zurücklegte.
»Was geschah mit dem Träger?«, wollte der Alb wissen.
»Er versank in einem pechschwarzen Weiher, Höchster, zusammen mit seinem Gefährten. Wir haben das Ufer zwei Sonnenumläufe lang bewacht, aber sie tauchten nicht wieder auf. Die Kettenhemden werden sie auf den Grund gezogen haben, wo sie ertranken.« Ondori klang keineswegs befriedigt. »Ich hatte ihn schon, doch das Lederband seines Waffengurtes riss, und er rutschte mir durch die Finger. Er sollte im Kampf besiegt werden und nicht im Schlamm eines namenlosen Teichs im untergegangen Lesinteïl enden! Was er mir und meinen Schwestern nahm, hätte er mit unendlichen Qualen büßen müssen. Der Tod unter Wasser war viel zu leicht«, erklärte sie ihre Freudlosigkeit trotz des Triumphes, den sie errungen hatte.
»Wir alle haben Verluste am Schwarzjoch erlitten, aber keiner außer dir und deinen Freunden sah sich auserkoren, Rache zu üben und die Stellungen zu verlassen. Du hast unser Verständnis, aber nicht unsere grenzenlose Milde, Ondori«, sagte die Albin. »Es ist gut, dass du zu uns zurückgekehrt bist und uns die Feuerklinge gebracht hast. Denn wir haben bereits eine Verwendung dafür.«
»Du wirst mit deinen treuen Freunden morgen ins Graue Gebirge aufbrechen, wo du hin wolltest«, befahl ihr der Alb, dieses Mal mit deutlicher Strenge in der Stimme. »Du wirst die Axt mit dir nehmen und den Orks gegen die Zwerge beistehen, die sich dort herumtreiben. Nichts wird sich verheerender auf die Gemüter der Unterirdischen auswirken als der Verlust von zwei bedeutenden Dingen: ihrem Helden und ihrer Axt. Die Orks brechen ihre Festung, wir ihren Willen.«
»Ich verstehe nicht, Nagsor Inàste. Welche Orks?«
»Eine gewaltige Streitmacht ist an unserer Ostgrenze vorbeigewandert und hat Kurs auf das Graue Gebirge genommen«, erklärte er ihr. »Vermutlich wollen sie das Reich der Unterirdischen in ihren Besitz bringen.«
Ondori hörte von dem Heer zum ersten Mal, und was sie noch schlimmer fand: »Warum haben sie uns nicht geholfen? Und warum sollten wir den stinkenden, feigen Tieren für ihr Nichtstun die stärkste Waffe an die Seite stellen, die es im Geborgenen Land gibt?«
»Macht«, ertönte es zweistimmig.
»Wir verlangen von dir«, sprach der Herrscher weiter, »dass du deinem Volk einen Anteil an der Eroberung sicherst, damit die Orks den Sieg nicht allein erringen. Du wirst deinen Fuß für Dsôn Balsur in das Graue Gebirge setzen und uns ein Refugium schaffen, sollten wir das Reich aufgeben müssen.«
»Aufgeben, Nagsor Inàste?« Beinahe hätte sie den Kopf gehoben und das höchste Wesen des Reiches ohne Erlaubnis angeblickt, so groß war ihr Schreck über das, was er ihr offenbarte. »Die Menschen sind auf ihrem Eroberungszug nicht einmal eine halbe Meile vorangekommen und...«
»Die Menschen bezahlen ihren Wunsch, uns aus dem Geborgenen Land zu vertreiben, mit hunderten von Gefallenen. Sie sind starrsinnig und hören nicht auf den Rat der Elben, was es uns einfach macht, sie aus dem Schutz des Waldes heraus mit unseren Pfeilen zu spicken.« Die Herrscherin bewegte sich auf ihrem Thron, Ondori sah es an dem wogenden Saum des langen Rocks. »Doch die Menschen sind zahlreich. Sie karren Freiwillige herbei und versprechen ihnen die Reichtümer unserer Heimat. Auch das Band zwischen ihnen, den Elben und den Zwergen ist stark. Sie sind sich einig darüber, Dsôn Balsur zu vernichten. Diese Einigkeit ist unser größter Widersacher. Wir werden sie auf Dauer nicht aufhalten können.«
Stoff raschelte, Ondoris Schopf wurde sanft berührt. Eine gravierte Klinge schwebte vor ihren Augen, die Schneide wurde links an die Stirn gesetzt und mit einem schnellen Schnitt nach rechts gezogen. Mit dem Blut, das aus der Wunde trat, malte sie ihr Symbole auf die Haut.
»Nimm den Segen Inàstes, Ondori, gebe ihn an deine Freunde weiter und reite den Orks hinterher. Sieh es nicht als Strafe, dich mit den Orks abgeben zu müssen, sondern richte dein Augenmerk auf die Verantwortung, die wir dir übertragen.« Die Stimme der Albin troff süß in ihre Ohren, sie betäubte den brennenden Schmerz.
»Was mache ich, wenn sie sich weigern, uns teilhaben zu lassen, Nagsar Inàste?«
»Dann nimmst du diese Axt, Ondori, und erschlägst ihren Fürsten. Sie sollen sehen, welche Macht wir in Händen halten«, befahl sie ihr. »Notfalls führst du sie gegen die Festung und die Hand voll Zwerge, die angeblich zurückgekehrt sind. Sie werden dir aus Angst folgen.« Die Hand zog sich von ihrem Kopf zurück; es war das Zeichen, dass sie gehen durfte.
Ondori rutschte rückwärts auf den Knien von den Stufen weg, den Blick gesenkt und das Kissen mit der Feuerklinge vor sich haltend. So ging es Handbreit für Handbreit über dunklen Marmor nach hinten.
Erst als sie die Pfosten einer Tür passierte und blinde Diener die Türen aus Tionium schlossen, erhob sie sich und schaute geradeaus auf die Schriftzeichen, die in das Metall getrieben worden waren.
DIE IMMERWÄHRENDEN GESCHÖPFTE INÀSTES,
NAGSOR UND NAGSAR,
BRUDER UND SCHWESTER.
IHRE ANTLITZE ZU SCHÖN FÜR DIE AUGEN,
ZU GRAUSAM FÜR DIE SEELE,
TÖDLICH FÜR DAS HERZ.
NEIGE DAS HAUPT IN EHRFURCHT UND SCHRECKEN.
Um ein Haar..., dachte sie an den Augenblick zurück, in dem sie fast nach oben geschaut hätte. Es gab keine Aufzeichnungen darüber, was mit denen geschah, die das Gebot missachteten, doch die Tatsache, dass einige Albae nach einer Audienz bei den Unauslöschlichen Geschwistern nicht wieder in ihre Wohnungen zurückgekehrt waren, zeigte ihr und allen anderen, dass man diesen Frevel wohl nicht überlebte.
Ondori wischte sich das getrocknete Blut von den Augenlidern, achtete jedoch darauf, das Symbol auf ihrer Stirn nicht zu verwischen.
»Du kannst gehen«, wies sie einer der blinden Diener an, die leeren Augenhöhlen richteten sich auf sie. »Ich bringe dich hinaus.« Er kam auf sie zu und stellte sich neben sie, dabei wirkten seine Schritte so sicher, als könnte er sie und die Umgebung sehen. »Lege deinen Arm auf meine Schulter«, befahl er. Ondori tat es, ihre Rechte berührte das Metall seiner Zeremonienrüstung.
Gemeinsam wandelten sie durch die hohen Gänge, deren Schönheit für ihren Begleiter auf immer verloren blieb. Die Wände waren aus Schwarzholz geschaffen worden, kunstvolle Einlagen aus poliertem Silber und mattiertem Tionium unterstrichen die Pracht des Materials.
Die besten Maler und Zeichner hatten aus dem Blut der besiegten Gegner Gemälde geschaffen, welche die Taten ihres Volkes verherrlichten: wie die Elben des Geborgenen Landes vernichtet wurden, wie sie die Menschen mehr als einmal niederwarfen und ihr Territorium stetig ausweiteten und wie sie Dsôn Balsur erschufen, schöner und düsterer als alles, was ihr Volk je ins Leben gerufen hatte.
Vor einem leeren Fleck an der Wand blieb Ondori stehen. Hier war eine Aussparung gelassen worden, die Künstler hatten das Bild vom Tod des Elbenfürsten Liútasil bereits begonnen, in feinen Umrissen war es schon zu sehen.
Ob es jemals fertig wird? Die Albin bewunderte, welche Farbvielfalt durch das Mischen verschiedener Blutarten entstand. Sie erkannte das nichts sagende Menschenblut, die unterschiedlichen Grüntöne der Orks und ihrer Verwandten, das helle Elbenblut und das kräftig-dunkle der Unterirdischen.
Sie wusste, dass es keine leichte Sache war, mit dem Lebenssaft zu malen. Er gerann schnell und konnte nur durch die Zugabe von bestimmten Kräutern und Essenzen flüssig gehalten werden. Ihre Mutter hatte die Kunst perfekt beherrscht. Seit ihrem Tod in Grünhain blieb die Staffelei in ihrem Haus verwaist, denn sie und ihre Schwestern rührten die Pinsel nicht an.