»Geh weiter.« Ihr Begleiter legte seine Hand auf die ihre und setzte den Weg fort.
Bald darauf konnte sie den Palast des geschwisterlichen Herrscherpaars verlassen. Ächzend schoben sich die Tore aus Steinholz auf, donnernd schlossen sie sich hinter ihr. Das gewittergleiche Rumpeln hallte nach, dann war es still.
Die Albin ging über den großen, leeren Platz; unter ihren Stiefelsohlen rieben die perlengroßen Knochenstückchen leise knirschend aneinander. Sie waren aus den Überresten ihrer Feinde gefertigt; die Gebeine von Elben, Zwergen, Menschen und Kreaturen Tions aller Art dienten dazu, das Laufen auf dem Platz sowie auf allen Straßen und Gassen Dsôns so angenehm wie möglich zu machen. Ausgeblichen von der Sonne des Geborgenen Landes, bildeten sie einen sehenswerten Kontrast zu den dunklen Gebäuden.
Ondori hatte den Rand des Plateaus erreicht. Der Abendwind fuhr durch ihre dunkelbraunen Haare und spielte mit dem Stoff ihrer Augenmaske.
Dsôn lag inmitten eines Kraters von zehn Meilen Durchmesser und zwei Meilen Tiefe.
Die Legende besagte, dass eine schwarze Träne ihrer Schöpferin Inàste ins Geborgene Land gefallen sei und es zerfressen habe. Die Elben der Goldenen Ebene hatten erfolglos versucht, den Krater zuzuschütten, und als ihr Volk die Elben vernichtete, errichtete es aus all der Erde einen Berg von etwas mehr als drei Meilen Höhe, auf dem der titanische Knochenpalast des geschwisterlichen Herrscherpaars stand.
Ondoris Blick wanderte über die Gebäude ihrer Heimatstadt, die aus Schwarzholz errichtet worden war. Es war so belastbar, dass man sieben Stockwerke ohne Schwierigkeiten übereinander setzen konnte; erst bei größeren Höhen bedurfte es einer Steinwand als Fundament.
Diese Härte erlaubte es den Baukünstlern, die anmutigsten Formen zu entwerfen. Einfallslose Kästen wie die, in denen die Menschen zu hausen pflegten, gab es hier nicht. Symmetrisch gestaltete Ecken, grazile Ausbuchtungen, anmutige Einschübe, verschnörkelte Anbauten, sich ineinander drehende Turmstücke und Halbkugeln breiteten sich zu ihren Füßen aus und schufen ein finsteres Ganzes, in dem das Weiß der Wege verstohlen leuchtete. Auch hier setzten silberne Einlegearbeiten, Schmucksteine und Tionium besondere Akzente, andere Steine und Legierungen begannen erst zu leuchten, wenn das Licht der Sterne und des Mondes auf sie fiel. Nachts sah Dsôn noch herrlicher aus.
Es wäre schade, wenn wir das alles aufgeben und unser Zuhause gegen die Steinwände des Gebirges eintauschen müssten, dachte sie und schaute wehmütig zu dem schroffen Kraterrand, hinter dem die Sonne blutrot versank.
Ondori wandte sich um und hob den Kopf, um hinauf zur Spitze des turmförmigen, verspielt gebauten Palasts zu sehen, dessen äußere Hülle ganz aus Knochen bestand.
Sie sah kleine, große und gigantische Knochen, die von Menschen, Ogern, Orks, Riesen und Drachen stammten; darunter befanden sich auch Stücke, die zu keiner bekannten Kreatur passen wollten und selbst diejenigen der Drachen überragten. Sie alle bildeten den 100 Schritt hohen Sockel, fügten sich kunstvoll in- und aneinander. Schnitzer hatten Statuen und Szenen aus ihnen angefertigt, und sobald sie zu morsch und porös wurden, wurden sie durch neue ersetzt. Da es ihrem Volk nicht an Feinden mangelte, galt der Fortbestand des Palasts als gesichert.
Die anschließenden 800 Schritt bis zur schlanken Spitze des Turms bestanden aus reinem Elbenbein, gewonnen aus den knöchernen Überresten der vernichteten Elbenvölker des Geborgenen Landes.
Im Schein der untergehenden Sonne wechselte es die Farbe, schimmerte honigfarben, dann orange und schließlich dunkelrot wie Zwergenblut. Ondori liebte den Anblick.
»Du lebst? So dürfen auch wir auf die Gnade der Geschwister hoffen«, sagte die Stimme ihres Freundes Estugon hinter ihr.
Ondori lächelte und drehte sich um. Vor ihr standen ihre Begleiter, mit denen sie ausgerückt war, um den Mördern ihrer Eltern auf eigene Faust den Tod zu bringen. »Ja, ihr dürft. Und ihr müsst mich ein weiteres Mal begleiten, wenn wir Dsôn Balsur morgen verlassen und ins Graue Gebirge reiten.«
Sie schauten sich fragend an. »Ich hatte damit gerechnet, dass wir ausgesendet werden, um die Streitmacht anzugreifen«, sagte Estugon verwundert.
Sie hob die Feuerklinge. »Nein. Wir werden den schwachsinnigen Orks einen Teil ihres neuen Reiches abspenstig machen.« Sie erklärte in knappen Sätzen, was von ihnen erwartet wurde.
»Nun, das klingt für mich nicht nach Strafe, sondern nach einem Vertrauensbeweis«, meinte Estugon und betrachtete den Turm. Ondori sah, wie das Schwarz in seinen Augen verschwand und reinem Weiß Platz machte. Nun sah er makellos schön aus wie ein Elb. »Ich danke Euch, Nagsor Inàste und Nagsar Inàste«, rief er laut und warf sich nieder, seine Begleiter taten es ihm nach. »Wir werden Euch niemals enttäuschen.«
Die Albin stellte sich vor sie und zog ein schlankes Messer. »Erhebt euch, damit ich euch den Segen weitergebe, der mir zuteil wurde«, sagte sie und vollführte das gleiche Ritual wie Nagsar Inàste an ihr. Keiner von ihren Freunden verzog das Gesicht, als das Messer sie ritzte. Es war eine Ehre, eine Besonderheit, von den Unauslöschlichen geweiht zu werden. Die Zeichen auf ihrer Stirn trugen sie mit immensem Stolz.
»Nun sollten wir ruhen«, befahl sie ihnen. »Wir müssen schnell reiten, um die hirnlosen Bestien einzuholen.«
»Wir können noch mehr Unterirdische töten, wie schön«, freute sich Estugon. »Es war die Fügung Inàstes, dass wir die Mörder deiner Eltern in Lesinteïl trafen und vernichten durften.«
»Einer fehlt mir noch. Mein Vater sprach von drei besonderen Unterirdischen, und ich habe den fehlenden Zwilling in der Gruppe nicht entdeckt.«
»Er wird geflohen sein.«
»Ein Unterirdischer, der seine Freunde und seinen Bruder im Stich ließe? Niemals. Ich vermute ihn im Grauen Gebirge. Die anderen kamen jedenfalls von dort. Ihr seht, wir haben gute Gründe, ihnen einen Besuch abzustatten.« Ondori wog die Feuerklinge kopfschüttelnd in der Hand, ehe sie sich die Waffe auf den Rücken hing. Ihr graute davor, sie womöglich gegen die Orks einsetzen zu müssen. »Ich werde niemals verstehen, weshalb sie solche Äxte schmieden. Sei sind schwer und unhandlich, und sie stecken schneller fest, als man möchte.«
Sie nahm die Treppe, die sie nach fünfhundert Stufen zu dem Zwischenplateau führten, wo ihre Begleiter die Reittiere hatten warten lassen. Nachtmahre und Feuerstier standen nebeneinander, es war nicht notwendig, sie anzubinden, sie gehorchten ihren Besitzern aufs Wort.
»Sie sind klein und für ihre Größe sehr kräftig, was wohl mit ihrem stetigen Wühlen in den Bergen zu tun hat«, schätzte Estugon. »Ich kann mir einen von ihnen mit einem Schwert oder einem Bogen nicht vorstellen. Ihre Finger sind dazu zu kurz«, höhnte er und erntete das Gelächter der Übrigen.
Ondori ging zu Agrass, ihrem vor Kraft strotzenden schwarzen Feuerstier, und besah sich die Hinterläufe. Die Beile des Zwergs hatten tiefe Wunden geschlagen, fast wären sie das Todesurteil für das treue Tier gewesen. Die verkrusteten Schnitte wurden allmählich zu Narben, der Schorf bröckelte ab und gab neues, fellloses Fleisch frei. Liebevoll strich sie Agrass über die Flanke und schwang sich in den Sattel.
Ihre Begleiter bevorzugten im Gegensatz zu ihr die Nachtmahre, die Ondori zu schwach im Kampf waren. »Ich weiß, was ihr von Agrass haltet«, sagte sie, während sie den Bullen wendete und den breiten Nacken kraulte. »Aber eure netten Pferdchen wären bei den gleichen Hieben, wie er sie ertragen musste, schon längst eingegangen.«
Die Albae lachten. »Er ist eben ein bisschen langsam«, zog Estugon sie auf und umrundete sie dabei mit seinem schnaubenden Nachtmahr.