Der Verwalter überlegte. »Mit etwas Glück und dem Beistand Palandiells kommt Ihr im Südtrakt rascher zu einem Ergebnis«, schätzte er und rieb sich den Rotz an seinem Ärmel ab. »Dort sind alle Zugezogenen festgehalten. Also... alle. Auch die aus den anderen Königreichen.« Er ging voran, um die beiden Frauen zu führen.
Narmora blieb schräg hinter der Maga. Diese aber hielt dem Mann nun die Bevollmächtigung Königin Weys unter die Nase und verlangte, dass sich alle Bediensteten, die lesen konnten, in dem Trakt einfanden, um ihnen bei den Nachforschungen zur Hand zu gehen.
Nach außen gab Narmora vor, die gefügige Famula zu sein. Sie bemühte sich mehr denn je, ihre Lektionen im Umgang mit den magischen Kräften zu lernen, und erntete dadurch das Lob ihrer Mentorin.
Was Andôkai nicht ahnte, war der Umstand, dass sich ihr Ansporn verändert hatte. Er lag nur noch in zweiter Linie darin, das Geborgene Land vor der merkwürdigen Bedrohung aus dem Westen zu schützen. Seit der Unterredung mit Rodario in Porista strebte sie nach einem ganz anderen Zieclass="underline" der Einhaltung ihres Todeseides, den sie am Bett ihres Gefährten geleistet hatte. Bevor sie ihn in die Tat umsetzte, musste sie viel und geduldig lernen und ihre Erbitterung und den Abscheu verbergen.
Sie waren im Südtrakt des Gebäudes angelangt. Die Maga wandte sich ihrer Famula zu, ihr Arm deutete nach rechts zu einem weiteren Hochregal. Eine hölzerne Treppe führte zur Balustrade hinauf. »Du beginnst auf dieser Seite, ich gegenüber. Die anderen werden sich um die Aufzeichnungen kümmern, die ebenerdig zu erreichen sind.«
Narmora deutete eine Verbeugung an und erklomm die knarrenden Stufen. Schließlich befand sie sich auf dem schmalen Rundgang, der mit einem Geländer gesichert war, welches einen Suchenden vor dem Sturz aus zehn Schritt Höhe bewahrte. Andôkai winkte ihr von der gegenüberliegenden Seite zu und griff nach dem ersten Folianten. Sie blies über die Seiten, und eine dicke Staubschicht wirbelte auf.
Narmora tat es ihr nach, aber ihre Augen glitten über die handschriftlichen Krakeleien, ohne den Sinn zu erfassen. Warum hast du mir und Furgas das angetan? Um mich in deine Lehre zu zwingen? Sie blätterte gedankenverloren um, der unfassbare Verrat der Maga und ihre Intrige beschäftigten sie nach wie vor.
Leider ergab alles, was ihr Rodario in jener Nacht kalk-weiß offenbart hatte, einen Sinn. Die Tötung der Räuber und der Frau durch Djerůn, damit sie nicht mehr ausplauderten, das ganze Verhalten der Maga und die Folgen der Ereignisse fügten sich zusammen und ließen allein den Schluss zu, dass alles eingefädelt worden war, damit sie sich der Magie verschrieb.
Wieder wendete sie eine Seite, ohne auf den Inhalt zu achten.
Du wirst es bitter bereuen, mich in die Geheimnisse eingeweiht zu haben, dachte sie und blickte hinüber zu Andôkai. Sobald Furgas geheilt war und sich herausstellte, dass es keine tatsächliche Gefahr aus dem Jenseitigen Land gab, würde sie sich das Leben der Maga für die Leiden von Furgas und für den Tod ihres Sohnes nehmen. Und nicht einmal der Leibwächter würde es verhindern!
Ihr Herz schlug schneller, und die Wut kochte hoch. Sie zwang sich zur Ruhe, damit ihre albische Natur nicht durchbrach und sie verriet.
»Ich habe etwas«, rief Andôkai plötzlich. Gehorsam kam Narmora herüber. »Vor knapp siebzig Zyklen haben sich Siedler in Gastinga niedergelassen, die angaben, aus dem Jenseitigen Land zu stammen. Ihre Kinder und Enkel müssten noch leben.« Sie rief den Verwalter zu sich und ließ sich erklären, wie lange man reiste, um zu dem Ort zu gelangen.
»Das Dorf liegt auf dieser Insel«, sagte er. »Ihr werdet übermorgen dort sein, ich gebe Euch einen meiner Bediensteten mit, der Euch führen wird.«
»Hervorragend«, rief sie zufrieden. »Samusin stand uns bei und belohnte uns für die lange, beschwerliche Reise nach Weyurn mit einem raschen Erfolg.«
Der Mann räusperte sich warnend. »Auch wenn das Heiligtum nicht mehr für Riten genutzt wird, bitte ich Euch dennoch, Palandiell zu ehren und dort nicht den Namen eines anderen Gottes zu nennen.«
Langsam drehte sie ihm ihr kantiges Gesicht zu. »Ich nenne den Namen meines Gottes, wann immer und wo immer ich will. Durch seine Gnade und seinen Beistand habe ich den Angriff Nôdʹonns überstanden, und durch seinen Beistand wurde das Geborgene Land gerettet. Diejenigen unseres Zirkels, die sich auf andere Götter beriefen, mussten sterben. Wem also gebührt die größere Ehre? Samusin oder Palandiell?« Sie breitete die Arme aus. »Ihr habt das Heiligtum aufgegeben und es mit Papieren voll gestopft, sodass kein Platz mehr für die Göttin bleibt. Ihr habt damit begonnen, sie nicht mehr zu ehren, nicht ich.« Andôkai ließ ihn stehen und stieg die Stufen hinab. »Ich will in einer Stunde abreisen. Veranlasse, dass unser Führer pünktlich zur Stelle ist.« Die Absätze ihrer Stiefel knallten hart auf die Dielen.
Narmora hob wortlos die Augenbrauen, um dem in sich zusammengesunkenen Verwalter zu zeigen, dass sie es nicht ganz so sah, und folgte der Maga.
»Ich werde nach Dorsa sehen«, sagte sie und bog zu ihren Gemächern ab. »Vielleicht hat Rosild noch nicht damit angefangen, ihre Sachen aus den Truhen zu räumen.«
Ohne die Erlaubnis abzuwarten, hastete sie den gewölbeähnlichen Korridor entlang, durch den einst die Priester Palandiells gewandelt waren, ehe Königin Wey ihnen einen neuen Tempel geschenkt und den alten zu ihrem Archiv erklärt hatte.
Sie fand ihre Tochter an der Brust von Rosild, der Amme, welche Andôkai für die Reise angeheuert hatte. Sie war eine noch recht junge Frau mit dicken Brüsten und reichlich Milch für das kleine, zerbrechliche Wesen. Es blieb Narmora ein Rätsel, wie sie Rosild dazu gebracht hatte, ihre Familie und ihr eigenes Neugeborenes in Porista zurückzulassen. Vermutlich hat sie sie gezwungen, ahnte sie den Grund.
»Sie trinkt ordentlich«, berichtete Rosild stolz. »Und sie hat zugenommen, ich spüre es deutlich.« Sie drückte Narmora die Tochter in den Arm, und auch sie bemerkte das Gewicht. Die Amme kam näher und machte ein Gesicht, als wollte sie etwas Unangenehmes sagen. »Ist es Euch auch aufgefallen?«, druckste sie herum.
»Ja. Dorsa hat tatsächlich...«
»Nein. Nicht das.« Sie schob die Decke etwas zurück und legte das rechte Ohr des Mädchens frei. »Ich kann mich täuschen, aber es macht auf mich den Eindruck, als liefe es spitz zu. Es scheint so etwas wie eine Missbildung zu sein.« Sie schaute zu Narmora und erwartete eine Erklärung oder sogar ein Lob, dass es ihr aufgefallen war. »Man könnte die Enden jetzt stutzen, um ihr später Hänseleien zu ersparen«, redete sie weiter, nachdem von der Mutter nichts kam. »Ich kenne es von jungen Jagdhunden, denen man die Ohren kürzt, damit sie besser durch Höhlen...«
»Nein«, widersprach Narmora hart. »Niemand legt Hand an meine Tochter. Die... Missbildung wird sich sicherlich auswachsen.« Hastig legte sie das Tuch wieder um den kleinen Kopf. »Du wirst mit niemandem darüber sprechen, Rosild, hast du mich verstanden?« Die Amme nickte, und ihr Blick wanderte für einen Moment zum dunkelroten Kopftuch der Albin, unter dem sie ihre spitzen Ohren verbarg, dann senkte er sich auf den Steinboden. »Packe alles zusammen, wir reisen in einer Stunde weiter.«
Mit Dorsa auf dem Arm verließ sie die Unterkunft, um sich in die große Halle zu begeben, in deren Mitte ein großes Kaminfeuer in einer offenen Brandstätte prasselte. Narmora und ihre Tochter genossen die Wärme, die von den Flammen ausging und die Kühle der Gischt vertrieb.
»Wir sind bald dort, wo die Sonne scheint«, sagte sie zu dem eindösenden Kind.
Gastinga, das Dorf, dem sie einen Besuch abstatteten, lag landeinwärts, wo mit weniger Feuchtigkeit zu rechnen war.
Ihre Reise durch das Königinnenreich Weyurn war beschwerlich geworden. Das Beben hatte die großen Seen, welche mehr als die Hälfte des Staates einnahmen, über die Ufer treten und sich zu neuen Wasserflächen zusammenschließen lassen. Es hatte nur wenig Tote gegeben. Die betroffenen Bewohner, das hatten sie unterwegs selbst erlebt, trugen es mit Fassung, verließen die überspülten Höfe und siedelten auf eine der zahlreichen Inseln um. Die Mehrzahl der Weyurnen lebte dort.