Aspila unterbrach ihre Erzählung, um sich einen Becher Wasser zu holen und die trocken gewordene Kehle zu befeuchten.
Narmora atmete auf. »Das klingt nicht so, als müsste sich das Geborgene Land vor ihnen fürchten«, sagte sie. »Prinz Mallen von Idoslân würde sie mit offenen Armen empfangen.«
»Die Legende geht noch weiter, edle Dame«, sagte die Frau. »Die Amshas befinden sich unentwegt auf der Suche nach allem Bösen, um es auszumerzen. Da sie ein glühender Schmiedehammer aus dem Leib eins Gottes herausschlug, sind auch sie feurig heiß. Die Hitze, die von ihnen ausgeht, ist so groß, dass sie alles Land, das sie betreten, durch ihre bloße Anwesenheit verbrennen und zerstören. Je länger sie bleiben, um so mehr legen ihre Kräfte in Schutt und Asche. Es wird erzählt, dass sie sogar Seen und Meere ausgetrocknet hätten. Deshalb versuchte unser Gebieter, sie davon abzuhalten, in unsere Heimat zu kommen. Er sammelte die besten Magier, die reinsten Kreaturen, in denen nichts Böses wohnt, und die unschuldigsten, aufrichtigsten Männer und Frauen aus sämtlichen Teilen des Reiches, um die Amshas aufzuhalten.«
»Und? Ist es ihm gelungen?«, wollte Andôkai wissen.
Aspila schüttelte den Kopf. »Ich kann es Euch nicht sagen, edle Dame. Meine Familie floh, ehe die Truppen ins Dorf kamen.«
Narmora suchte nach einer Erklärung, wie sich der Komet in diese Legende fügte, und fragte die Frau danach.
»Meine Tochter hat die Geschichte nur zur Hälfte erzählt.« Zu ihrer Überraschung hatte sich die alte Frau im Bett aufgestützt und schaute sie aus wachen Augen an. »Es waren elf Schläge und keine zehn, die Essgar Kofos erteilte. Der letzte Amsha wurde durch die Wucht weit, weit davongeschleudert und verschwand über dem Horizont, stieg zum Firmament auf und umkreiste die Sterne als feuriger Ball. Eines Nachts, so erzählte mir meine Mutter, kehrt er zu seinen Brüdern zurück, und sie werden noch schlimmer wüten als jemals zuvor.«
Andôkai legte die Hände zusammen. Jetzt ergab der gestürzte Stern einen Sinn... Sie las in Narmoras Gesicht, dass diese ähnlich dachte. »Wir haben genug gehört«, sagte sie und klang enttäuscht. »Es ist nichts, was uns geholfen hätte. Behalte die Münzen, die dir meine Famula gab. Ihr habt uns gut unterhalten.« Sie stand auf und ging ohne Gruß hinaus.
»Die Götter mögen euch beistehen«, verabschiedete sich Narmora, nahm eine fünfte Münze und drückte sie der Frau in die Hand. »Aber ruht euch auf dem kleinen Reichtum nicht aus.«
Schnell lief sie die wenigen Schritte zur Kutsche und zog den Verschlag hinter sich zu, um nicht mehr Regen ins Innere zu lassen. Sie warf sich in den Sitz, und das Gefährt holperte los, kaum dass sie saß.
Die Maga schaute aus dem regennassen Fenster. Man sah ihr an, dass sie sich sorgte. Sie hatte den Siedlern vorgespielt, dass sie nichts von Belang berichtet hätten, doch in Wirklichkeit hatten sie hier die Bestätigung von Nôdʹonns Worten erhalten.
Das hätte ich niemals für möglich gehalten. Haben wir einen Fehler begangen, als wir ihn vernichtet haben?, fragte sich Narmora unruhig, während sie behutsam über die Wange ihrer schlafenden Tochter strich. Ihr wollte jedoch keine andere Lösung einfallen; eine friedliche Zusammenarbeit mit dem abtrünnigen Magus und tausendfachen Mörder wäre niemand im Geborgenen Land eingegangen. Unsere reinsten Wesen existieren nicht mehr, fiel es ihr voller Schrecken ein. Die Orkverbände hatten die letzten Einhörner bei Mifurdania abgeschlachtet. Es gab nichts, was ihnen an Makellosigkeit gleichkam.
»Avatare.« Andôkai senkte die Stirn gegen das Fenster, der blonde Zopf rutschte unter ihrer Kapuze hervor und legte sich auf ihre Brust. »Wenn die Legende einen Funken Wahrheit enthält, haben wir es mit Avataren Tions zu tun. Fleisch gewordenen Abbildern, ausgestattet mit gottgleicher Macht und wohl kaum durch weltliche Waffen zu vernichten.« Ihre Augen richteten sich auf Narmora. »Du weißt, was das für uns beide bedeutet?«
»Es wird keine Stunde mehr vergehen, ohne dass ich im Umgang mit der Magie geschult werde«, erwiderte sie und betrachtete das Gesicht der kleinen Dorsa. Ich möchte dir eine Heimat hinterlassen, keine verbrannte Erde, über die ein heißer Wind weht. »Berichten wir den Königshäusern, was wir erfahren haben?«
Andôkai bemerkte, dass ihre Famula sie nicht anschauen wollte, ging jedoch nicht weiter darauf ein. »Es wird das Beste sein. Ich berufe ein Treffen aller Herrscherinnen und Herrscher in Porista ein, sobald Djerůn von seiner Mission zurückkehrt. Die Angelegenheit muss von den Höchsten der Völker des Geborgenen Landes besprochen werden. Sie ist zu bedeutend, um sie in einem simplen Brief niederzuschreiben. Vielleicht hat das Aufklärerheer Weys bis dahin ebenfalls etwas in Erfahrung gebracht.« Sie schaute einschüchternd zu Rosild. »Du wirst nichts von dem, was du gehört hast, jemandem erzählen, Amme, oder Dorsa war das letzte Kind, das du gesäugt hast«, sprach sie mit schneidender Stimme. »Die Menschen des Geborgenen Landes werden davon in Kenntnis gesetzt, wenn wir einen Plan zur Abwehr der Avatare haben. Sie werden aus dem Munde ihrer Königinnen und Könige davon erfahren und nicht aus dem einer Nährmutter.« Hastig nickte Rosild, sie verlor alle Farbe und schwor auf der Stelle bei Palandiell, nichts zu verraten. »Und nun zurück nach Porista. Wir haben viel vorzubereiten und zu tun, Narmora.«
»Gewiss, ehrenwerte Maga.« Die Halbalbin nickte beiläufig, ohne die Augen von Dorsa zu wenden. Was ihre Mentorin nicht ahnte, war, dass die Neuigkeiten soeben ihr Leben verlängert hatten, mindestens für den Zeitraum, in dem der Krieg gegen die Avatare Tions geführt wurde. Danach würde sie Andôkai keine Schonung mehr zuteil werden lassen. »Ich werde eine noch bessere Famula sein, das verspreche ich Euch.« Sie drehte den Kopf und lächelte die Maga an. Die Schauspielerei beherrschte sie noch immer.
Zweites Buch
I
Das Geborgene Land, Gauragar,
6234. Sonnenzyklus, Spätfrühling
»Wirst du die Entscheidung nicht bereuen, Tungdil?« Myr lief neben ihm her und stellte die Frage, ohne ihn anzusehen. Sie hielt einen kleinen Tiegel mit bläulicher Salbe in der Hand und schmierte sich das empfindliche Gesicht ein, um es vor der Sonne zu schützen.
Tungdil kam es so vor, als schämte sie sich, dass er sie in die Welt ihrer Gemeinschaft begleitete, als wäre es ihr unangenehm, als bedrückte sie der Umstand, dass er das Fünfte Zwergenreich verlassen hatte... als machte sie sich deswegen Vorwürfe.
»Nein, ich werde sie sicher nicht bereuen«, antwortete er nach einer Weile, einen Fuß vor den anderen setzend und die Augen auf den Horizont geheftet, wo die Sonne versank und das Geborgene Land in dunkles Rot tauchte. »Du denkst nicht etwa, dass ich sie deinetwegen verlassen habe?«
»Meinst du mit ›sie‹ nun Balyndis oder deine Leute?«
Tungdil musste selbst nachdenken. »Balyndis und ihren Gemahl«, erwiderte er mit fester Stimme. »Nein, ich habe sie nicht deinetwegen verlassen. Ich gestehe, dass ich dich anziehend finde, weil du so völlig anders bist als die Zwerginnen, die ich bislang kennen lernen durfte. Weil du meiner gelehrten Seele neues Leben gegeben hast.« Er wandte sich ihr zu, und ihr Blick begegnete dem seinen; Hoffnung stand in den roten Augen. »Lass mir Zeit, Myr. Mein Herz und mein Verstand sind noch zu verwirrt, als dass ich mir über meine Gefühle im Klaren wäre.« Er lächelte schief. »Der Abstand zu Balyndis wird mir gut tun und mir zeigen, was ich will. Das ist der Grund, weshalb ich gegangen bin. Und die Neugier auf das, was ich bei deinen Leuten zu sehen bekomme.«