Zwei Wasserfälle ergossen sich am Rand der Stadt aus vierhundert Schritt Höhe in ein Bassin, von dem aus Kanäle gezogen worden waren. Sie führten teils zu angelegten Gärten, teils verschwanden sie im Felsgestein.
Die Bewohner sahen von oben winzig aus, nicht größer als Felsenkäfer. Tungdil vernahm ihre Unterhaltungen als leises Gemurmel, dazu das Klingen von Hämmern auf Ambossen und andere Geräusche, die er aus den Städten der Menschen kannte.
Die zumeist quadratischen Bauten schmiegten sich an eine sanft ansteigende Felswand auf der anderen Seite der Höhle, auf deren Spitze sich eine kleine, aber aufwändig gestaltete Festung erhob. Beleuchtet wurde die Stadt von schimmerndem Moos, das an den Wänden wuchs und sanftes, bräunliches Licht spendete. An bestimmten Punkten erhoben sich Masten, an deren oberen Enden gewaltige Feuerkörbe befestigt waren und in denen helle Flammen loderten; polierte Metallscheiben streuten die Helligkeit.
»Das ist großartig«, gestand Tungdil gegenüber Gemmil, der sich neben ihn gesellt hatte. »Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass ihr so viele seid.«
Der König deutete auf die Stadt. »Das ist Goldhort, eine der fünf Städte...«
»Fünf?«, entschlüpfte es Ingrimmsch.
»... in denen wir leben«, setzte Gemmil seinen Satz fort, und der Stolz darüber stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Hier sind es fünftausend Seelen, die Vraccas mit seinem Segen bedenkt und die in Freiheit leben, ohne Zwang von Seiten der Clans oder Familien, einzig dem Willen des Göttlichen Schmieds folgend.«
Boïndil blies die Backen auf, um etwas zu erwidern, doch Tungdil gab ihm zu verstehen, dass er jetzt nichts sagen sollte.
»Wo sind wir untergebracht?«
Gemmil zeigte auf ein Haus inmitten von Goldhort. »Da werdet ihr wohnen, es gehört Myr. Ihr seid dort, wo das Leben ist und wo ihr einen Eindruck von unserer Gemeinschaft bekommt. Mein Sitz ist in der Festung. Ich besuche euch morgen, wenn es euch recht ist, und zeige euch die Stadt.« Er nickte Myr zu und schlug den Weg zur Burg ein.
»Dann kommt mit«, lud sie die Zwerge ein und schritt die Stufen hinab. »Ihr seid herzlich in meinem Haus willkommen.«
Tungdil, Boëndal und sein Bruder folgten der Chirurga.
Schritt für Schritt wurde die Stadt größer, und was von oben so übersichtlich ausgesehen hatte, wurde bald verworren und zu einem Labyrinth, dem doch eine gewisse Ordnung zu Grunde lag. Tungdil bemerkte den frischen Wind, der den Qualm der Schmieden und Werkstätten davonwehte und dafür sorgte, dass den Bewohnern genügend Luft zum Atmen blieb.
Bald gingen sie durch die Gassen und Straßen Goldhorts, vorbei an den Auslagen der Händler, die Essen, Werkzeuge, Schmuck und viele andere Dinge feilboten, und an zwei Tavernen, aus denen Gesänge schallten. Sie passierten eine zehn Schritt hohe Vraccas-Statue aus Eisen, die mit Edelsteinen und Diamanten besetzt war; vereinzelt leuchteten Gold- und Vraccasium-Intarsien auf.
Niemand behelligte sie, gelegentlich wurde Myr gegrüßt.
»Habt ihr gesehen?«, wisperte Ingrimmsch. »Einige von ihnen tragen ihre Bärte seltsam. Ich glaube, ich habe einen bartlosen alten Zwerg gesehen. Und ich habe Duftwasser gerochen, sie parfümieren sich.« Er rümpfte die Nase. »Bei unseren Ahnen, fehlt nur noch, dass sie Elbisch sprechen und spitze Ohren bekommen.«
»Die wenigsten von ihnen tragen Kettenhemden oder Waffen«, setzte Boëndal leise nach. »Wo sind wir nur hingeraten?«
»Wozu auch?«, hakte ihre Führerin ein und hielt vor der Tür zu ihrem Haus an. »Wir sind sicher, bei uns gibt es keine Orks oder anderen Kreaturen, die es ständig mit uns aufnehmen wollen, und von daher keinen Grund, sich mit schweren Äxten und Eisenhemden zu belasten.«
»Belasten?«, begehrte Boïndil auf. »Hast du eben belasten gesagt? Es ist keine Belastung, es ist unsere Art. Kettenhemd und Waffe gehören bei uns dazu wie Stiefel und Lederwams!«
»Bei den Clanzwergen ja, bei den Freien nicht unbedingt.« Zum ersten Mal klang sie betroffen; das schroffe und unvergleichlich derbe Wesen Ingrimmschs war schwerlich zu überspielen und verletzte beinahe ebenso wie die Klingen seiner Beile.
Sie sperrte die Tür auf und trat ein. »Kommt herein und geht gleich die Treppe hinauf. Ich will nicht, dass ihr meine Teppiche nass macht.« Sie zeigte ihnen ihr Missfallen und verschwand in einem Nebenzimmer.
»Teppiche«, murmelte Ingrimmsch fassungslos. »Was kommt als Nächstes? Blumenwasser zum Händewaschen?«
»Sei friedlich. Wir sind zu Gast.« Tungdil setzte sich an die Spitze und erklomm die Steinstufen nach oben, wo sie eine geräumige Unterkunft erwartete. Wie versprochen fanden sie genügend Wäsche in ihrer Größe.
Nacheinander zogen sie sich um.
Tungdil war als Erster fertig, sah sich um und entdeckte eine weitere, schmale Stiege, die noch ein Stockwerk höher führte. Als er sie erklomm, gelangte er an eine Luke und stand kurz darauf auf dem Flachdach von Myrs Haus.
Die Geräusche der Stadt klangen deutlich an sein Ohr, er hörte sogar einzelne Gesprächsfetzen. Mal ging es um Banales, wie den Preis von Gemüse, mal sprachen die Zwerge über Neuankömmlinge und die Entwicklung des Geborgenen Landes im Allgemeinen.
Offenbar, das hörte Tungdil zumindest heraus, konnten sich einige der Freien nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, wieder in engere Verbindung mit den Zwergen der Stämme zu treten, denen sie entflohen waren.
So gibt es auch hier Vorbehalte, dachte er irgendwie erleichtert und trat näher an den Rand des Dachs, um die Passanten zu betrachten.
Er entdeckte vollständig gebleichte Zwerge und solche wie er selbst, die noch nicht lange zur Gemeinschaft der Ausgestoßenen gehörten. Sie begegneten sich auf der Straße achtungsvoll, grüßten einander und gingen ihrer Wege.
Schließlich entdeckte er den achteckigen Vraccas-Tempel, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Statue erbaut worden war. Aus den fünf Schloten stieg weißer Qualm, und der Geruch von Kräutern und glühendem Eisen hing in der Luft, ehe der Wind ihn mit sich fort trug; offenbar vollführten die Priester eine Zeremonie zu Ehren des Göttlichen Schmieds.
Der helle Rauch erinnerte ihn an den unheimlichen Nebel, durch den er in den Ausläufern des Jenseitigen Landes gelaufen war, und an die Rune in der Felswand. Ob die Untergründigen auch zu Vraccas beten?
»Wenn du bleibst, wirst du das Nachtgebet zu hören bekommen«, sagte Myr unvermittelt hinter ihm.
Er zuckte erschrocken zusammen und wäre um ein Haar über die Kante gerutscht, aber sie erwischte ihn am Hemd und zog ihn zurück. Da er sein ganzes Gewicht nach hinten verlagert hatte, prallte er hart gegen sie und beeilte sich, sie aufzufangen, weil nun sie in Gefahr geriet, umgestoßen zu werden.
So lange, wie ein Tropfen Bier braucht, um aus dem Bart eines Zwerges zu Boden zu fallen, standen sie dicht an dicht. Tungdil spürte ihre Wärme und die weichen Brüste durch ihr Hemd. In diesem Augenblick schätzte er sich glücklich, kein Kettenhemd zu tragen.
Sich räuspernd ließ er sie los. »Das Nachtgebet?«, versuchte er abzulenken und wandte sich zu dem Tempel um, dessen Türen sich soeben öffneten.
Fünf Dutzend Zwerge in der Tracht der Schmiede kamen heraus und stellten sich auf die Stufen; offenbar wusste jeder von ihnen ganz genau, wohin er gehörte. Der Letzte trat an einen Amboss aus reinem Vraccasium, einen Vorschlaghammer aus Stahl haltend.
»Es ist der rituelle Dank für einen weiteren Tag, den uns Vraccas gewährt hat«, erläuterte sie. »Ich habe den Zwillingen Bescheid gesagt, sie werden es sich mit uns ansehen.«
Ingrimmsch zwängte sich durch die Öffnung; auch er musste ohne sein geliebtes Eisenkleid auskommen, lediglich die Beile steckten in seinem Gürtel. »Da seid ihr ja. Die besten Plätze sind wohl schon weg?« Er kniff die Augen zusammen. »Was wird denn das?«, fragte er mit Blick auf die Priester. Myr erklärte es ihm kurz. »Aha«, meinte er daraufhin. »Nun, bei uns betet jeder für sich allein. Nur zu besonderen Gelegenheiten kommen wir zusammen.«