»Es sieht recht ordentlich aus, was sich da vor uns tut«, bescheinigte sein Bruder, der soeben auf das Dach stieg. »Was kommt nun?«
Ein lautes Horn blies einen dunklen, melodischen Ton durch die Gassen und Straßen und rief die Zwerge auf den Platz, auf dem sich die Statue befand.
Immer mehr drängten sich dazu, sodass es bald den Anschein hatte, als bestünde der ganze Platz aus Köpfen mit den unterschiedlichsten Haarfarben. Auch auf den Dächern, die gleichermaßen flach gebaut waren wie Myrs Haus, regte sich etwas. Wo auch immer sich gerade die Gelegenheit bot, kamen die Bewohner Goldhorts zum Vorschein und wandten den Blick auf den Tempel und die Statue. Auch Myr widmete ihre Aufmerksamkeit dem kommenden Gebet.
Der Priester am Amboss wuchtete den Vorschlaghammer in die Höhe und hielt ihn ausgestreckt über dem Kopf, ohne dass seine Arme zitterten. »Vraccas, höre unsere Stimmen und unser Lob an dich«, rief er getragen und ließ den Hammerkopf nach unten sausen.
Ein helles, metallisches Klirren ertönte, gleißende Funken sprühten mehrere Schritt weit davon, einen feurigen Schweif hinter sich herziehend, und trafen die Kohlebecken an den Treppen, aus denen weiße Lohen emporschossen.
Der Priester in der Mitte der Gruppe öffnete die Lippen und hob an zu singen. Kräftig und voll drangen die Töne aus seinem Mund. Nach der ersten Strophe fiel ein zweiter Priester mit ein, nach der zweiten ein dritter und immer so fort, bis die Hälfte der Zwerge sang.
Ein weiterer Hammerschlag folgte, und diejenigen, die eben noch geschwiegen hatten, erhoben die Stimmen und machten aus dem anfangs einfachen Lied eines einzelnen Sängers ein ergreifendes, vielstimmiges Chorwerk, wie es Tungdil noch nie gehört hatte. Er fühlte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten.
Das gesungene Gebet an Vraccas rührte die Seele eines jeden Zwergs. Auch Boïndil und Boëndal rangen mit der Fassung, die Ergriffenheit hielt ihre Kehlen umklammert, und als die Zwerge um sie herum sowie auf dem Platz das Knie beugten, taten sie es ihnen ohne zu zögern nach, um Vraccas auf diese neue Weise zu huldigen.
Gefesselt von der Stimmung und gefangen von den Tönen, konnte Tungdil nur mehr staunen und schlucken. Sein Wunsch, dass der Chor niemals mehr verstummen möge, ging nicht in Erfüllung.
Eine letzte Zeile, und die Sänger schwiegen; das Lied rollte durch die Höhle, kehrte als leises Echo noch einmal zu den Zwergen zurück und verklang. Der Priester schlug ein drittes Mal auf den Amboss, der Chor zog sich geordnet in den Tempel zurück, und die Bewohner erhoben sich. Der Zauber verfiel.
»Das nenne ich ein Nachtgebet«, raunte Boïndil und beobachtete, wie sich das Portal des Heiligtums schloss. »Wie wird dann erst das Morgengebet?« Deutlich schwang in seiner Frage die Hoffnung mit, so etwas Schönes bald noch einmal erleben zu dürfen.
Myr lächelte ihn an. »Wir haben nur das Abendgebet. Morgens wirst du mit deinen eigenen Worten zu Vraccas sprechen müssen.« Sie deutete nach unten. »Ich habe uns etwas zu essen gemacht, und danach lege zumindest ich mich hin, um mich auszuruhen. Ich empfehle euch das Gleiche, denn Gemmil wird euch morgen durch die kleinsten Winkel von Goldhort schleifen. Er ist sehr stolz auf unsere Stadt.«
Kurz darauf saßen sie am hellbraunen Steintisch und ließen sich schmecken, was die Chirurga für sie zubereitet hatte. Einige der Gerichte kannte Tungdil nicht, auch die Zwillinge blickten misstrauisch auf die eine oder andere Schüssel.
»Moosgemüse, Knollenwurzsalat, ein Braten aus hellem Fleisch mit dunkler Biersoße. Es sind Spezialitäten aus verschiedenen Zwergenreichen«, erklärte sie und nahm ihnen die Zurückhaltung nicht übel. »Wir haben sie verfeinert und Neues daraus gemacht.« Mit diesen Worten lud sie ihnen die Teller voll. Der Hunger überwand schon bald die Vorsicht, und die Zwerge ließen es sich schmecken.
»Das Fleisch«, kaute Ingrimmsch begeistert und hielt ihr den Teller hin, »schmeckt gut. Ziege ist das nicht?«
»Es ist Gugul. Sie sind schwer in Gattern zu halten, also müssen wir sie von Zeit zu Zeit in den Stollen jagen, in denen sie frei umherlaufen.« Sie sah, dass er nichts mit dem Namen anfangen konnte. »Es ist eine Käfersorte. Sie werden so lang wie ein Zwerg groß ist und sind verflucht schnell. Aber sie schmecken hervorragend.« Sie zeigte auf den Käse, von dem er sich genommen hatte. »Den machen wir aus ihren Drüsen. An der frischen Luft stockt er sofort, man muss ihn nur noch in Salzlake legen und durchziehen lassen.« Sie reichte ihm den Teller gefüllt zurück.
Boïndil hielt das Besteck umfasst und schaute wortlos auf das, was er eben noch in den höchsten Tönen gepriesen hatte.
»Ho, scheut mein Bruder die Leckerei plötzlich?«, zog ihn Boëndal auf und aß mit Genuss weiter. »Es hat sie nicht umgebracht, also wird es dich auch nicht klein kriegen.« Er nahm den Humpen mit Bier und leerte ihn; sein Rülpsen fiel etwas leiser aus als sonst. Er benahm sich, weil Myr mit am Tisch saß.
»Schmeckt es dir?«, fragte sie ihn neugierig.
»Vorzüglich«, lobte Boëndal und goss sich nach. »Es hat einen besonderen Beigeschmack, malzig und würzig.«
»Das Bier veredeln wir mit...«
Der Zwilling, der den Humpen gerade an die Lippen setzte, hob abwehrend die Hand. »Nein, sag es nicht, Myr. Ich möchte nicht wissen, ob der Saft einer Raupe, einer Made oder etwas anderes hineingepresst wurde, dazu schmeckt es zu gut.« Er trank, und sie schwieg tatsächlich. Grinsend.
Der Nachtisch bestand aus einer weißen, cremigen Substanz, die einen honigähnlichen Geschmack besaß. Tungdil entdeckte auf seinem Teller den Rest einer zähen Hülle, mit der Maden ihr weiches Inneres schützen, sagte jedoch nichts, sondern löffelte die süße Masse weiter.
Ingrimmsch nahm sich natürlich eine zweite Portion, bewies aber so viel Schläue, nicht mehr zu fragen, was ihm da so mundete. Müde, mit vollen Bäuchen und vom Alkohol benebelt, wankten die drei schließlich die Treppe hinauf und warfen sich in die Betten.
»Ich habe es nicht bereut, dich begleitet zu haben«, ächzte Boïndil und löste den Gürtel; ein tiefes Rülpsen verschaffte ihm Platz im Magen. »Aber ich fürchte, ich werde bald nicht mehr in mein Kettenhemd passen. Myr kocht zu gut.«
Die anderen beiden lachten. »Danke, dass ihr beiden mich nicht allein habt gehen lassen«, sagte Tungdil ernst.
»Wir haben so viel zusammen erlebt! Denkst du, wir würden unseren Gelehrten im Stich lassen?«, meinte Ingrimmsch erstaunt.
»Und schon gar nicht, wenn er sich an einen Ort begibt, an dem sich der Abschaum der Zwerge aufhält. Du kannst deine Augen nicht überall haben.«
»Der Abschaum«, murmelte Tungdil nachdenklich. »Noch habe ich nichts gesehen und erfahren, was mich die Zwerge Goldhorts weniger achten lässt als unsere.«
Boëndal streckte sich aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Du darfst nicht vergessen, dass sie entweder mit gutem Grund ausgestoßen wurden oder ihre Familie denen entspringt, die einmal Unrecht an unserem Volk taten.« Er blickte zu Tungdil. »Das gilt auch für Myr.«
»Die dein Leben gerettet hat«, machte Tungdil ihn gereizt darauf aufmerksam.
Boëndal nickte. »Das habe ich nicht vergessen, und mein Bruder hat einen Eid geleistet, sie zu schützen. Das ändert aber nichts an ihrer Herkunft.«
»Wir haben uns geschworen, zu einer neuen Gemeinschaft im Geborgenen Land zu finden«, erinnerte Tungdil sie an den Eid, den sie auf dem Schwarzjoch nach der Schlacht geleistet hatten. »Zu dieser Gemeinschaft gehören die Freien mit dazu. Sie haben fünf Städte, und die anderen vier werden keinesfalls kleiner sein als Goldhort. Wir brauchen sie, allein schon, um die Sicherheit im Grauen Gebirge zu gewährleisten.« Er hielt dem Blick Boëndals mit zwergischer Entschlossenheit stand. »Wir sind hier, meine Freunde, um mehr über sie und ihre Kultur zu erfahren und zu sehen, ob die Unterschiede zu groß sind.« Kühle sprach aus seinem Blick, als er fortfuhr. »Um ehrlich zu sein, kann ich im Augenblick nur unsere Voreingenommenheit ihnen gegenüber erkennen, die uns voneinander trennt.«