Der Zwilling drehte den Kopf zur Decke. »Wir werden sehen, was Vraccas uns in den kommenden Umläufen noch erkennen lässt«, sagte er ausweichend und schloss die Augen.
Es wird ein hartes Stück Arbeit. Das Biegen von Stahl ist dagegen einfach. Tungdil seufzte, seine Mundwinkel wanderten nach unten. Einerseits freute er sich, nicht ganz allein unter den Freien zu sein, andererseits wünschte er sich etwas mehr Aufgeschlossenheit von seinen Begleitern. Sogar Boëndal, der gemäßigtere der Zwillinge, würde sich nur schwer von einer engeren Zusammenarbeit mit den Geisterzwergen überzeugen lassen. Schon wieder eine Prüfung für mich, Vraccas?, dachte er müde.
»Was unternehmen wir wegen der Feuerklinge?«, fragte Ingrimmsch in das Schweigen hinein. »Soll sie in der Hand der schwarzäugigen Spitzohren bleiben?«
»Wenn Glaïmbar nicht so ein schlechter Kämpfer wäre, müsste ich mir keine Gedanken darüber machen«, gab Tungdil zurück. »Dsôn Balsur wird bald gegen das Heer von Menschen, Elben und Zwergen fallen. Wir werden die Axt zurückbekommen. Jetzt brauchen wir sie nicht, und den Albae bringt sie keinen Vorteil.« Er senkte die Lider. »Aber ich hole mir mein Eigentum wieder.«
»Ho, und schon steht das nächste Abenteuer an. Rate, wer dabei sein wird«, meinte Boïndil fröhlich.
Das Geborgene Land, Dsôn Balsur,
6234. Sonnenzyklus, Frühsommer
Ondori roch das Feuer, das in ihrer Heimat loderte. Es erinnerte sie daran, wie sie selbst in Flammen gestanden hatte. Die Lohen der Feuerklinge hatten Teile ihres Gesichts bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Nun gab es einen zweifachen Grund, eine Maske zu tragen.
Sie befand sich auf der Spitze eines der zahlreichen Wachtürme, in denen einst die Elben der Goldenen Ebene ihre Späher stationiert hatten, und schaute nach Süden, wo dicke, schwarze Wolken in den blauen Himmel stiegen.
Dort lag der Ort der drohenden Niederlage.
Unablässig feuerten die Menschen, Elben und Zwerge mit ihren Schleudern Brandgeschosse in den dichten Wald und verwandelten selbst die toten Bäume mit der Mischung aus Petroleum, Öl, Pech und Schwefel in riesige Fackeln. So brannte eine breite Schneise geradewegs auf den Knochenturm zu, der noch immer in vielen Meilen Abstand zu dem Heer lag. Aber nach dem Waldgürtel folgte eine Ebene, in der sich den Angreifern wenige Hindernisse entgegenstemmen würden.
Die Albin blickte über die Schulter. Auf halber Strecke zwischen der Hauptstadt und dem Wald lag die Festung Arviû; von hier strömten immer neue Albae an die Front, um die Streitmacht des Geborgenen Landes aufzuhalten. Doch auch dieser Strom drohte allmählich zu versiegen.
Ihre Hände strichen an dem metallenen Kampfstab entlang. Wir werden ihnen harte Verluste zufügen. Wir werden uns nicht länger drauf beschränken, sie nur mit unseren Pfeilen zu spicken.
Sie wandte sich zur Treppe, um den 50 Schritt hohen Turm zu verlassen.
Ondori bewegte sich sehr behutsam; die Wunde in ihrem Leib, die ihr Tungdils Dolch zugefügt hatte, war noch nicht ganz verheilt. Sie schmerzte und rief ihr unentwegt die erlittene Schmach am Grauen Gebirge ins Gedächtnis. Es war nicht einmal mehr Zeit geblieben, das Geheimnis des Schwarzen Wassers zu ergründen, das die Orks mit sich geschleppt hatten. Auf ihrer Flucht hatte sie einen umherliegenden Trinkschlauch vom Schlachtfeld mitgenommen, um unterwegs nicht nach Quellen oder Bächen suchen zu müssen. Erst nach einem langen Schluck daraus hatte sie bemerkt, dass es sich um Schwarzes Wasser gehandelt hatte. Sie verstand nicht, weshalb es die Orks mitnahmen. Es schmeckte grauenvoll.
Die Unauslöschlichen hatten ihre unglaublichen Schilderungen vernommen und ihr nach ihrer Rückkehr befohlen, an die Front zu gehen, um dort im Kampf gegen die Feinde zu fallen. Die Feuerklinge hatte sie bei ihnen gelassen. Sie würde die verfluchte Axt nicht mehr anrühren.
Längst wollte sie keine Zeit mehr verlieren, um zu sterben... um ihrem unwürdigen Leben ein rühmliches Ende zu setzen. Sogar der Tod ihrer Eltern blieb ungerächt, was sie am meisten peinigte. Wenigstens gestatteten die Unauslöschlichen ihr, einen eigenen Trupp anzuführen, dessen Mitglieder ebensolche Versager waren, wie sie selbst einer war.
Sie trat am Fuße des Turms ins Freie und schwang sich in den Sattel des Feuerstiers. Ihr Blick wanderte über die wartende Schar von einhundert Albae - Männer und Frauen, die es an Tapferkeit hatten mangeln lassen.
»Hört zu, Feiglinge«, sprach sie laut. »Ich treibe euch geradewegs in die Reihen der Feinde. Ein jeder von euch wird zehn von ihnen erschlagen, ehe er stirbt. Sehe ich nur einen, der versucht, vor einem Kampf zu weichen, erreicht ihn mein Pfeil oder mein getreuer Freund Agrass.« Sie klopfte dem schwarzen Bullen liebevoll auf den breiten Nacken. »Tion wird im Jenseits über jeden einzelnen von euch richten, also strengt euch an, wenn ihr nicht in ewiger Verdammnis und Qual enden wollt. Ich trage noch immer den Segen der Unauslöschlichen, der euch zuteil werden kann. Zeigt mir, dass ihr es wert seid.«
Sie nickte dem vordersten Alb zu, der sich in Richtung Süden in Bewegung setzte. Ondori blieb hinter der Schar und passte sorgfältig auf, dass keiner von ihnen einen Fluchtversuch unternahm.
Innerhalb eines Sonnenumlaufs näherten sie sich der Stelle, wo das Heer seine Brandkugeln in den Wald schleuderte.
Höchstens eine Meile, und sie sind durchgebrochen, schätzte sie voller Schrecken. Vom Turm aus hatte es wesentlich günstiger für Dsôn Balsur ausgesehen, und die Wirklichkeit traf sie hart.
Ein Alb in einer schwarzen Rüstung trat aus dem Dickicht und grüßte sie abfällig. Einer Albin wie ihr musste man keine besondere Achtung entgegenbringen. »Ihr seid uns von den Unauslöschlichen versprochen worden, um die Wurfmaschinen anzugreifen und die Lademannschaften auszuschalten.« Er reichte ihr ein Papyrus mit einer Skizze, von welcher Stelle aus sie den Überraschungsangriff am besten führen sollte. »Wir unternehmen einen Scheinangriff, ihr schlagt euch in dem Durcheinander zu dem Öl- und Petroleumlager durch und zündet es an. Damit ist uns fürs Erste gedient.« Er betrachtete ihre Maske. »Was soll das? Bist du so hässlich wie feige, dass du dich nicht zeigst?« Er streckte die Finger nach dem Seidenstoff aus, um ihn mitsamt der Maske zur Seite zu ziehen.
Der Stier schnaubte warnend und drehte das massige Haupt; das linke Horn schwebte vor der Brust des Albs. Der zögerte und ließ den Arm sinken.
»Wie schade, dass die Feigheit dich verharren ließ«, sagte Ondori kühl. »Du wärst erstaunt gewesen, wie...« Sie schwieg. »Wie hübsch ich bin«, hatte sie sagen wollen, doch es traf nicht mehr zu. Die Feuerklinge hatte ihr die Schönheit geraubt. »Ich bin den Tod wert.«
»Geh und stirb«, zischte er, drehte sich um und verschwand im Unterholz.
Sie rief ihre Anweisungen und leitete die Truppe nach Westen, um sich an einer von den Menschen unbewachten Stelle einen Weg durch den Wald zu suchen. Nach vier Meilen schwenkten sie zwischen die finsteren Stämme und rasteten bis Mitternacht, dann schlichen sie sich näher an das Lager des feindlichen Heeres heran.
Ondori fluchte leise. Sie hatten zwar die richtige Flanke erreicht, doch hier wachten die Zwerge und Elben, welche den Wurfmaschinen ihren Schutz angedeihen ließen.