Выбрать главу

»Reite deines Weges, Spitzohr«, empfahl ihr der Zwerg. »Oder greife uns an, und du wirst erkennen, dass wir dir überlegen sind.«

Sie hätte es zu gern auf eine Probe ankommen lassen, doch das Geschrei, das Klappern von Rüstungen und der Fackelschein warnten sie vor der anrückenden Schar von Menschen, denen der Hass den notwendigen Mut verlieh, sich zwischen die Bäume zu wagen.

»Wenn ihr Dritte seid, so sendet einen Gesandten zu meinen Herrschern, um ein Bündnis gegen unsere gemeinsamen Gegner zu schmieden«, unterbreitete sie unvermittelt.

»Reite, Spitzohr. Oder stirb«, erneuerte ihr Anführer seine Drohung.

Fluchend entschied sie, dass dies weder der Ort noch die Stunde sei, um ihr Leben gegen vier Unterirdische zu verlieren. Schließlich hatte sie einen Teil der Schmach von sich gewaschen. Also wendete sie den Bullen und ritt los, um zu ihrem Haufen aufzuschließen. Die vier Zwerge blieben hinter ihr zurück.

Es sind sehr gute Neuigkeiten, die ich Nagsor und Nagsara Inàste überbringen kann, überlegte sie unterwegs. Die Zwergenhasser mischten vollkommen unerwartet mit und brauten sich aus dem, was im Geborgenen Land vor sich ging, ihr eigenes Süppchen, das keineswegs nach Friede und Eintracht schmeckte.

Nun hieß es, den Koch im Auge zu behalten und welche Zutaten er noch beizugeben gedachte. Mit der passenden Beigabe wird es auch uns munden.

Das Geborgene Land, Gauragar,

in der Hauptstadt des ehemaligen

Zauberreichs Lios Nudin, Porista,

6234. Sonnenzyklus, Herbst

»Wir können nicht länger warten, oder, ehrenwerte Maga?« Narmora schaute aus dem Buch auf, in das sie bis eben vertieft gewesen war. »Es ist zu viel Zeit vergangen, seitdem Ihr Djerůn durch das Rote Gebirge ins Jenseitige Land geschickt habt. Sollte er nicht nach achtzig Umläufen in den Palast zurückkehren?«

Die blonde Zauberin nickte. Sie saß ihrer Famula in dem großen Sessel der Bibliothek gegenüber, den Kopf seitlich angelehnt; eine Hand stützte die Stirn, hinter der es seit der Rückkehr aus Weyurn unablässig arbeitete. »132 Umläufe«, erwiderte sie nachdenklich. »Freiwillig käme er niemals zu spät, daher muss ihn etwas gehindert haben, hierher zu kommen. Aber was?« Abrupt schnellte sie in die Höhe, getrieben von Unrast und Sorge. »Djerůn ist nicht irgendein leicht zu überwindender Soldat, er ist ein...« Sie biss sich auf die Lippen.

»Er ist der König aller Kreaturen Tions«, sprach es Narmora aus. »Ich kenne die Legende um ihn, den Sohn Tions, wie er von meinem Volk genannt wird. Er wurde geschaffen, um diejenigen Scheusale zu töten, die nicht stark genug sind.«

»Ich vergesse gelegentlich einen Teil deines Blutes. Dann kannst du dir denken, dass das, was ihn aufhält, über enorme Kräfte verfügen muss.«

»Woher... kennt Ihr ihn? Ein Geschöpf wie ihn wird es nicht häufig geben.«

»Ich habe ihn vor Menschen gerettet, selbst ernannten Helden, die ihn in die Enge getrieben hatten. Ich wollte nicht zulassen, dass eine so herrliche Kreatur einen sinnlosen Tod stirbt. Das war vor mehr als hundert Zyklen. Seitdem...« Andôkai packte den Kerzenständer und schleuderte ihn quer durch den Raum. »Verfluchtes Jenseitiges Land und seine Geheimnisse!«, schrie sie. »So werden wir nie erfahren, was dort geschieht.«

»Hat denn das Heer von Königin Wey nichts entdecken können?«, fragte Narmora, um in Erfahrung zu bringen, was im letzten Brief, den ihre Mentorin erhielt, geschrieben stand.

Die Maga lachte freudlos auf. »Erinnerst du dich, dass ich sagte, wir sähen keinen einzigen von den Unglücklichen je wieder?« Sie nahm das Schriftstück aus einer Falte ihres roten Gewands. »Königin Xamtys ließ mich wissen, dass sie noch keine Spur von dem Heer gesehen hat, nicht einmal verletzte Überlebende oder einen Boten. Dafür grollt es gewaltig; der Feuerschein am nächtlichen Westhimmel wird angeblich intensiver und rückt näher.« Andôkai deutete auf die Bücherrücken. »Sieh dir das immense Wissen an, das hier gesammelt ist. Und doch nützt es uns nichts.« Sie umrundete den Tisch, trat hinter Narmora und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich muss dich loben. Du hast geradezu beängstigende Fortschritte gemacht. Ich bin guten Mutes, die Avatare aufhalten zu können.«

»Falls es das überhaupt ist, was die Zwerge des Ersten Nacht für Nacht sehen.« Ohne Erlaubnis nahm sich die Famula den Brief und las ihn. »Darin steht, dass sich nichts mehr an dem Portal getan hat«, stellte sie fest. »Keine Händler mehr, keine Bestien. Es scheint, als finge etwas jeden Mensch und jede Kreatur ab, die ins Geborgene Land vordringen möchte.«

»Ich sehe es als Beweis, dass die Avatare weit gekommen sind.« Andôkai kehrte an ihren Platz zurück. Erleichtert sank Narmora in ihrem Sessel zurück und war froh, die Hände der Frau, die den Anschlag auf ihren Mann und den Tod ihres Sohnes verschuldete, nicht mehr auf ihren Schultern spüren zu müssen.

Die Maga nahm sich Tinte, Papier und Feder, um Einladungen zu schreiben. »Ich kann es nicht mehr länger hinauszögern und hoffen, dass Djerůn noch am Leben ist«, erklärte sie ihr Handeln. »Das Treffen der Königinnen und Könige muss noch vor Anbruch des Winters stattfinden.«

»Sie werden kommen. Auch ohne die Avatare gibt es genügend zu besprechen«, fand Narmora. Sie dachte vor allem an den brennenden Konflikt zwischen den Elben und Zwergen, der wie aus dem Nichts vor Dsôn Balsur aufgeflammt war und eine ernste Bedrohung für den Zusammenhalt der Völker bedeutete.

Zwerge und Elben weigerten sich seitdem, ein Heer an die Front zu schicken, solange es keine Entschuldigung und ein Zeichen der Reue gab. Da jedoch jeder den anderen bezichtigte, mit dem Kampf begonnen zu haben, würde eine Einigung schwerlich zu erreichen sein. Das und die Zerstörung der Wurfmaschinen brachten den Albae einen willkommenen Aufschub.

»Ihr könntet den neuen Herrscher von Urgon fragen, was es mit den Gerüchten auf sich hat, dass er eine Streitmacht aufstellt, um nach Nordosten zu ziehen. Will er die Trolle oder die Vierten bekämpfen?«, äußerte sie ihre Gedanken laut. »Und das trotz seines zwergischen Leibarztes?«

»Belletain ist ein schwachsinniger Krüppel«, beschied die Maga, während die Feder über das Papier kritzelte, »aber er ist aus einem unglücklichen Zufall heraus der Nachfolger von Lothaire, den die Menschen verehrten. Diese Verehrung übertrug sich bis zu einem gewissen Grad auf den Onkel, und wo die Verehrung nicht ausreicht, kommt das Mitleid ins Spiel. Sehr gefährlich.«

Narmora erhob sich und ging zur Tür. »Verzeiht, ich kehre rechtzeitig zur nächsten Lektion zurück. Ich will nach Dorsa sehen«, erklärte sie ihren Aufbruch und machte sich auf den Weg durch den einsamen Palast.

Ihre Tochter schlief in der Wiege. Wann immer Narmora sie so da liegen sah, fürchtete sie, dass das Gewicht der Daunen ihr die Luft aus der schmächtigen Brust drücken könnte, was natürlich Unfug war. Die Kleine ruhte auf dem Rücken, die Arme neben dem Kopf, und schlief; die Atemzüge gingen gleichmäßig und verrieten, dass alles in bester Ordnung war.

»Wie groß du geworden bist«, flüsterte sie und streichelte den Haarflaum Dorsas.

Das winzige Bündel Leben spendete ihr Trost und gab ihr die Zuversicht, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft alles besser sein würde.

Wenn ihre Tochter lächelte, vergaß sie alles um sich herum und hatte nur Augen für den winzigen Mund und die Grübchen in den Wangen. Zugleich stiegen grauenvolle Bilder eines kleinen, verwesten Leichnams vor ihrem inneren Auge auf, den sie unter einem Haufen Steine im Wald vor Porista begraben hatte.