Sie beugte sich über die Wiege und küsste die linke, spitz zulaufende Ohrmuschel ihrer Tochter. Dorsa lächelte im Schlaf. »Andôkai wird sterben, wenn alles vorbei ist«, versprach sie ihr einmal mehr. »Schlaf, meine Tochter.« Leise stahl sie sich hinaus, um nach Furgas zu sehen, der im Nebenzimmer lag.
Als sie die Tür öffnete, fuhr Rodario sofort von seinem Platz neben ihrem Gefährten in die Höhe, eine Hand am Griff seines Dolches. »Verzeih«, stammelte er verwirrt, und die Abdrücke des Lakens auf seiner Wange verrieten ihr, dass er eingedöst war.
»Beherrsche dich, Unglaublicher«, sagte sie freundlich und trat an das Bett. »Du wirst besser schauspielern müssen, um der Maga nicht zu offenbaren, dass wir ihr Geheimnis um die Anschläge kennen. Dein Aufschrecken eben hätte dich schon in Schwierigkeiten bringen können.« Sie streichelte Furgasʹ Gesicht und gab ihm einen Kuss auf die kalten Lippen. »Es wird bald ein Treffen in Porista geben, danach entscheidet sich, was wir gegen die Avatare unternehmen«, offenbarte sie ihm.
Rodario streckte sich und strich sich über den legendären Kinnbart. »Bist du dir nach wie vor sicher, Andôkai den Tod bringen zu wollen?« Als er ihren eisigen Blick bemerkte, bemühte er sich, den Hintergrund seiner Frage deutlicher zu machen. »Sie ist die letzte Maga des Geborgenen Landes, deshalb habe ich meine Vorbehalte«, sagte er geflissentlich und sehr darauf bedacht, sie nicht zu verärgern. »Man würde dich nicht als Heldin feiern... wenn du verstehst, was ich meine.«
»Es wird niemand erfahren, wer sie getötet hat«, gab Narmora gleichgültig zurück und benetzte Furgasʹ Lippen mit einem feuchten Schwamm. »Ich kann ebenso gut aus dem Hinterhalt angreifen wie sie und meine Taten vertuschen.«
»Sicher, doch...« Er suchte die rechten Worte. »Deine Rachegelüste nehmen den Königreichen die letzte Maga, meine dunkle Schönheit. Wenn es eines Tages irgendwelchen schrecklichen Bestien, nein, noch schrecklicheren Bestien einfallen sollte einzufallen...«
Sie betrachtete ihn und schüttelte traurig den Kopf. »Rodario, hör dich nur mal reden... Du wirst zum Fürsprecher einer Frau, die deinen Tod und den deines besten Freundes herbeiführen wollte. Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist.«
»Sie wollte ihn nicht töten, nur in Starre versetzen.« Er sank auf seinem Stuhl in sich zusammen. »Manches Mal wünschte ich mir, dass ich dir nie von meinen Entdeckungen berichtet hätte, o du von Rache getriebene Kurzsichtige«, klagte er übertrieben. »Ich weiß, dass mein Leben an einem seidenen Faden hing, und dennoch: Andôkai ist die letzte Maga...«
»Und was bin ich?«
»Du?« Beinahe hätte er gelacht. »Narmora, du bist eine Famula, eine angehende Zauberin, die gut, aber nicht die Beste ist und schon gar nicht eine Maga von der Größe der Stürmischen.« Er wackelte mit dem Schopf. »Nimm es mir nicht übel, du wirst erst in einigen Sonnenzyklen so weit sein. Warte wenigstens, bis du das erreicht hast. Vielleicht ist deine Wut bis dahin verraucht.«
»Ach, und du bist neuerdings ein Kenner in Sachen Magie?«, spottete sie. »Ich werde den Tod meines Sohnes und die Leiden meines Mannes nicht ungesühnt lassen.« Sie zeigte auf die Tür. »Du kannst gehen. Danke, dass du auf ihn Acht gegeben hast. Im Schlaf.«
»Spar dir deine Schärfe. Denk an das Schicksal des Geborgenen Landes«, mahnte er sie und wandte sich zum Gehen. »Es leben noch andere Menschen hier als du, die auf die Kunst Andôkais angewiesen sind.« Mit diesen Worten drückte er sich hinaus auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu.
Narmora setzte sich aufs Bett neben den Schlafenden. Ihre Linke wanderte unter ihr Gewand und tastete nach dem Schmuckstück, das sie seit der Schlacht am Schwarzjoch trug.
Ich habe also nicht die Größe der Stürmischen, mein lieber Rodario? Ihre Finger schlossen sich um den Stein, den sie verborgen an einer Kette um den Hals trug.
Sie legte die rechte Hand auf die Stelle, an der das Kurzschwert in den Körper ihres Gefährten eingedrungen war, und schloss die Augen. Ein dunkelgrünes Leuchten umspielte die Verbände, sickerte durch sie hindurch und strömte bis zu den entzündeten Wundrändern. Dort verstärkte es sich, bekämpfte die eiternde Stelle und hinterließ rosa Haut, die sich gemächlich schloss und verwuchs, als hätte es die Verletzung niemals gegeben.
Narmora holte tief Luft. Noch konnte sie das Gift, das Furgas in der Starre hielt, nicht bekämpfen, aber wenigstens litt er nicht mehr unter den Folgen der Stichwunde. Die Verbände ließ sie an Ort und Stelle, damit ihre Mentorin nicht sah, dass er sich auf dem Wege der Besserung befand.
Bald. Bald ist es soweit, mein Talisman, dachte sie voller Dankbarkeit und ließ den Stein los. Dann machte sie sich durch die Gänge auf den Weg zu Andôkai, um die nächste Unterrichtsstunde in Sachen Magie zu empfangen.
Das alte Ritual folgte. Mit jedem Schritt auf dem weißen Marmor wurde aus ihr einmal mehr die gehorsame, fleißige Famula.
Das Geborgene Land, irgendwo
unter dem Land Gauragar, Goldhort,
6234. Sonnenzyklus, Herbst
Tungdil saß im Schneidersitz auf dem Dach von Myrs Haus, er hielt die Augen auf die Vraccas-Statue gerichtet und hatte einen Humpen mit Gerstensaft vor sich stehen.
Ein weiterer ereignis- und vor allem lehrreicher Tag bei den Freien neigte sich dem Ende zu. Er hatte Dinge erfahren und gesehen, die es ihm schwer machten, an einen Abschied zu denken. Die Abendstunden nutzte er, um sie bei einem guten Bier zu rekapitulieren.
Gemmil hatte ihn und die Zwillinge wahrlich in den hintersten Winkel von Goldhort geschleppt, um ihnen zu zeigen, wie die verschiedenen Zwerge lebten. Sie hatten die angelegten Gärten, das Bewässerungssystem, das aus dem Becken des Wasserfalls gespeist wurde, die Werkstätten und die Schmieden gesehen.
Dann hatten sie mit etlichen Bewohnern, mit Alteingesessenen und mit Neulingen gesprochen, und alle hatten das Leben fernab von ihrem Clan und Stamm gelobt. Ganz selten hatte Tungdil Wehmut und Trauer in den Augen derer gesehen, die sich mit ihm unterhielten. Auch er fühlte sich wohl bei den Freien, im Gegensatz zu Boëndal und Boïndil. Sie drängten darauf, wieder ins Graue Gebirge zurückzukehren, in die gewohnte Umgebung und die Gemeinschaft der Zwerge, deren Lebensweise sie besser verstanden.
Er hörte schwere Schritte hinter sich. Das Klirren eines Kettenhemds verriet ihm, dass es nur einer seiner beiden Begleiter sein konnte. Er selbst trug schon seit längerem keines mehr und beschränkte sich auf das Ledergewand.
»Du würdest gern hier bleiben«, sagte Boëndal und ließ sich neben ihm nieder, einen Krug in der Hand haltend.
Tungdil seufzte. »Ist es so offensichtlich?«
Der Zwerg lachte gutmütig. »Selbst mein Bruder befürchtet es inzwischen. Für ihn... für uns ist es schwer vorstellbar.« Er breitete die Arme aus. »Sicher sind es Zwerge, die hier leben, aber sie wurden von ihren Clans und Stämmen verstoßen.« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Außerdem sind Dritte unter ihnen«, fügte er leiser hinzu, und es klang leicht feindselig. »Alles in allem ist dies hier eine Gesellschaft, in der sich rechtschaffene Kinder des Schmiedes nicht ewig aufhalten möchten.«
»Ich weiß. Ich sehe, wie ihr von Tag zu Tag unruhiger werdet. Ingrimmsch beteiligt sich schon an der Jagd auf die Guguls, damit er sein immer heißer werdendes Blut beruhigen kann. Ihm fehlt der Kampf gegen die Orks oder andere Scheusale.« Absichtlich ging er nicht auf die Wortwahl seines Freundes ein, er ließ das »rechtschaffen« so stehen. Als Dritter gehörte er im Grunde nicht dazu.
Boëndal grinste. »Er fängt sie inzwischen mit der bloßen Hand. Diejenigen, die ihn begleiten, betrachten ihn mit Respekt und Furcht. Die Biester können nämlich ordentlich mit ihren Kiefern zupacken.« Er hob den Humpen in Richtung der Statue. »Dank sei Vraccas, dass er mich diese Welt sehen ließ, doch ich möchte sie auch wieder verlassen.« Er suchte Tungdils Blick. »Wir möchten sie bald verlassen. Verstehst du das, Gelehrter? Wir machen uns Sorgen wegen der Dinge, die sich im Geborgenen Land tun.«