»Und was wurde aus dir?«
»Ich ging fort und verdingte mich in Idoslân als Söldnerin, bis ich von einem der Freien erfuhr, dass es eine Gemeinschaft derer gibt, die von ihresgleichen ausgestoßen wurden. So gelangte ich nach Goldhort. Kein Zwerg kann auf Dauer ohne eine Familie sein.«
Tungdil ergriff ihre Hand und schüttelte sie. »Sanda, nimm meinen Dank dafür, dass ich nicht länger im Unklaren bin, was meine Eltern angeht. Wie gern hätte ich ihnen etwas anderes als den Tod gebracht...«
»Lieber hätte ich dir erzählt, dass sie voller Liebe auf dich warten und ihren berühmten Sohn in die Arme schließen möchten«, entgegnete sie aufrichtig. »Doch es ist nicht so. Nicht du hast ihnen den Tod gebracht, sondern die abgesprochene Heirat, mit der weder Yrdiss noch dein Vater einverstanden waren. Solche Verbindungen sind ein Grund, zu den Freien gehören zu wollen.«
Tungdil erhob sich. »Würdest du denn mit mir auf meine Eltern trinken?«
»Immer. Und es ist mir eine Ehre«, nickte die Herrschergemahlin. Gemeinsam kehrten sie in der nächsten Schenke ein und leerten die Krüge auf Yrdiss und Lotrobur. Sanda geriet dabei ins Schwärmen und pries sie ohne Unterlass.
Auch wenn Tungdil sich nicht an seinen Vater und seine Mutter erinnerte, erwuchs in ihm der Wille, ihre Tode zu rächen. Der Hass, den er zuvor gegen Glaïmbar verspürt hatte, richtete sich nun gegen einen anderen, dessen Name Salfalur lautete.
Vom Alkohol ermutigt, rang er Sanda das Versprechen ab, ihn weiter im Umgang mit der Axt zu unterweisen. Ich werde der beste Krieger der Dritten und Salfalur töten. Das schwöre ich dir, Vraccas...
Das Geborgene Land, Gauragar,
in der Hauptstadt des ehemaligen
Zauberreiches Lios Nudin, Porista,
6234. Sonnenzyklus, Spätherbst
Die Stadt der Maga zeigte sich den hochrangigen Besuchern in ihrem neuen Glanz. Unter der Leitung Rodarios waren die zerstörten Bauten in die Höhe gewachsen, die Ruinen waren prächtigen Gebäuden gewichen und ließen ahnen, wie es hier eines Tages wieder aussehen würde.
Nach und nach trafen die Delegationen ein, die Stadt wirkte bald wie ein Heerlager. Überall flatterten Wimpel und Fahnen im Wind und markierten die vorübergehenden Territorien der Königreiche. Niemand wunderte sich, dass Liútasils Banner an der entgegengesetzten Stelle zum Lager des Großkönigs Gandogar über den Häusern wehte.
Die Bewohner Poristas freuten sich über die Gäste. So großer Einnahmen hatten sich die Händler und Wirte seit dem Wiederaufbau noch nie erfreuen können, die Gassen und Straßen quollen über vor Menschen, Zwergen und Elben.
Dennoch herrschte eine deutliche Spannung.
Man befürchtete, es könnte sich ein ähnlicher Vorfall wie in Dsôn Balsur ereignen, und die Elben und Zwerge würden sich aus einem nicht erklärbaren Anlass gegenseitig an die Gurgel gehen. Dann würde die Versammlung in einem Chaos enden. Alle hofften, dass Andôkais Anwesenheit ihnen Besonnenheit schenkte, und sei es nur aus Furcht vor ihren Zaubern.
Als die Zeit des eigentlichen Treffens anbrach, trafen sich alle Königinnen und Könige des Geborgenen Landes in der restaurierten Versammlungshalle, in der sich einst die Magi und Magae beraten hatten. Nichts verriet, dass darin vier Menschen ihr Leben gegen Nudin verloren hatten. Schutt und Trümmer waren weggeschafft worden, und die alte Pracht war durch die Arbeit unzähliger Handwerker in die Kuppelhalle zurückgekehrt. Die Statue von Lot-Ionan befand sich in der Ostecke, mit Blick auf den gesamten Saal.
Narmora, gekleidet in eine bestickte, dunkelrote Robe, die ausgezeichnet zu ihren Augen und dem Kopftuch passte, stand unter einem der weißen Arkadenbögen und begrüßte die eintreffenden Herrscher im Namen ihrer Mentorin. Andôkai würde als Letzte eintreffen, ein Symbol ihrer Autorität und der machtbewusste Hinweis an die Besucher, dass es eine gab, die über ihnen stand.
»Schaut, wie sie sich rausgeputzt hat«, vernahm sie Boïndils dröhnende Stimme, die hinter der Menge von Königin Weys Lakaien erklang. »Nur wegen uns, Bruder.«
Die Diener machten den anrückenden Zwergen Platz, und Narmora erkannte Großkönig Gandogar, der von den beiden Zwillingen flankiert wurde. Hinter ihnen folgten die Abordnungen aller vier miteinander befreundeten Zwergenstämme.
Sie grüßte zuerst Gandogar, ehe sie die kräftigen Hände der Zwillinge drückte und herzlich schüttelte. »Träumst du noch von mir?«, fragte sie frech und zwinkerte Ingrimmsch zu.
Der Zwerg verzog den Mund. »Nein, Vraccas möge mich vor Alb-Träumen bewahren«, sagte er und verdrehte die weit geöffneten Augen. »Du siehst älter aus, Narmora. Ich dachte immer, Magie würde das Leben einer Maga bewahren?«
»Es ist viel geschehen«, antwortet sie vage, denn es lag nicht in ihrer Absicht, ihr Leid vor den gesamten Regierungen des Geborgenen Landes auszubreiten. »Wir können nach dem Treffen gern erzählen«, vertröstete sie ihn. So sehr sie sich anstrengte, ein Gesicht konnte sie unter den vielen Anwesenden nicht entdecken. Sie winkte Balyndis, die neben einem ihr unbekannten, aber beeindruckenden Zwerg stand. »Wo ist Tungdil?«
»Er ist bei den...«, plauderte Ingrimmsch freimütig drauflos.
Doch Boëndal unterbrach ihn mit einem Räuspern. »... bei den anderen im Grauen Gebirge. Es war ihm nicht vergönnt zu kommen. Wache, du verstehst?« Seiner Ansicht nach war es nicht gut, das Geheimnis der Freien vor so vielen Ohren preiszugeben. Es ging niemanden außer den Zwergen etwas an.
Narmora nickte und wusste, dass sie belogen wurde. Ein Blick in das fast schon verlegene Gesicht Gandogars brachte ihr die Gewissheit.
»Und frage Balyndis nicht nach ihm«, empfahl ihr Boïndil missgelaunt. »Sie gehören nicht mehr zusammen. Der Zwerg neben ihr ist ihr Gemahl, sie sind den Ehernen Bund eingegangen. Also, sag lieber nichts zu ihr.«
Das Schicksal meint es offenbar nicht nur mit mir schlecht. »Ich werde mich an deinen Rat halten«, gab sie lächelnd zurück. »Geht nun bitte hinein, eure Plätze sind gleich neben dem Eingang.
Weit genug entfernt von den Elben«, fügte sie hinzu und deutete einladend in den Raum hinter sich.
Sie folgte ihnen und schloss das Portal. Dann durchschritt sie den Saal, in dem Tische und Stühle halbkreisförmig aufgestellt worden waren, um sich auf den vorletzten freien Platz zu setzen. Der thronartige Sessel gebührte ihrer verhassten Mentorin.
Narmora beobachtete Liútasil. Der Elbenkönig Âlandurs unterhielt sich leise mit zwei Mitgliedern seiner Delegation; in den kurzen Gesprächspausen blickten sie feindselig zu den Zwergen auf der anderen Seite hinüber, um ihre Unterhaltung sogleich wieder aufzunehmen.
Was planen sie?, versuchte sie, ihre Gedanken zu ergründen, und starrte auf die Münder. Plötzlich hörte sie ihre Unterhaltung so laut, als stünde sie unmittelbar neben ihnen. Leider nützte es ihr nichts, auch wenn ihre magischen Fertigkeiten ihr Hilfe leisteten. Sie beherrschte die Sprache der Elben nicht, die sich so völlig von der ihrer Mutter unterschied.
Das Portal wurde von einem Luftzug aufgestoßen.
Ruckartig wandten sich die Köpfe, die Zwerge langten nach ihren Waffen, was die Elben dazu veranlasste, das Gleiche zu tun.
Auf der Schwelle stand Andôkai, in eine Robe in der gleichen Farbe wie Narmoras gehüllt; nur der Schnitt und die Stickereien waren weitaus raffinierter. In der Linken trug sie ihr Schwert in der Scheide.
Ihr Blick schweifte stolz über die Versammelten. »Willkommen in Porista, Ihr Regentinnen und Regenten des Geborgenen Landes«, sprach sie. »Willkommen, Ihr Elben, Zwerge und Menschen in meinem Palast.« Sie durchquerte die Halle und nahm auf ihrem erhöhten Sessel Platz, die Türflügel schlossen sich von selbst. »Ich habe Neuigkeiten. Und es sind keine, über die man sich im Geborgenen Land freuen wird.« Sie ließ ihre Worte wirken, dann sprach sie weiter. »Es gibt zehn Wesen im Jenseitigen Land, die aus Tion hervorgingen. Vraccas hat sie mit seinem glühenden Hammer in einem Streit aus Tion herausgeschlagen. Und nun trachten sie danach, alles zu vernichten, was Tion geschaffen hat. Das wäre aus Eurer Sicht nicht schlimm. Aber sie besitzen halbgöttliche Mächte, sie verbrennen die Erde, auf der sie sich befinden, und ruhen nicht eher, bis sie das Böse zerstört haben, ohne dabei Rücksicht auf die menschlichen Belange zu nehmen. Ihnen folgt ein Heer, das nicht minder zimperlich vorgeht.« Die Königinnen und Könige hörten die Nachricht über die Avatare Tions mit zunehmendem Schrecken. »Erinnert Ihr Euch an den Kometen, der über unsere Heimat hinwegzog und in einigen Regionen mannigfaltige Schäden anrichtete?« Andôkais Augen schweiften über die Gesichter. »Es war kein Komet. Es war der elfte von ihnen, der nach langer Reise zu seinen Brüdern fand. Er stieß in seiner feurigen Gestalt zu ihnen, und es hat den Anschein, als bereiteten sie den Sturm auf das Geborgene Land vor«, schloss sie ihren Bericht. »Nur die reinsten Kreaturen, die edel im Herzen und im Gemüt sind, können vor ihnen bestehen und wären in der Lage, sie zu besiegen. Was schlagt Ihr vor?«