Königin Wey, eine Frau um die fünfzig Zyklen in einem dunkelblauen, bodenlangen Kleid, das mit unzähligen Diamanten besetzt war, erhob die Stimme. »Ist diese Legende wahr, so bedürfen wir eines großen Heeres, und zwar eines noch größeren als dem, welches vor Dsôn Balsur steht.« Sie nickte der Maga zu. »Und wir benötigen Euch.«
»Meine Dienste und die meiner Famula sind Euch sicher, doch ich befürchte, dass sie nicht ausreichen werden. Ihr spracht ganz richtig von einem Heer...«
»Ein Heer aus Unschuldigen!«, sagte der in Pelz gehüllte König Nâte von Tabaîn aus einer plötzlichen Eingabe heraus. Sein schütteres Haar war so blond wie die Halme der Ährenebene, die Augen so grün wie die Blätter von Seerosen. »Ihr hattet gesagt, dass sie von den reinsten Kreaturen bezwungen werden können«, holte er aus. »Lasst uns die Jungfrauen und Männer, die sich der Fleischeslust noch nicht hingaben, versammeln und sie zu Soldaten ausbilden.«
»Nehmt doch Kinder«, brabbelte König Belletain vor sich hin, der mit seinem Weinpokal spielte und auch zu ihm redete. Ein Zwerg stand neben ihm und ließ ihn nicht aus den Augen, bereit, ihm bei einem Anfall von Schwäche sofort beizuspringen. »Steckt sie in Wurfmaschinen und feuert sie in die Reihen der Avatare, damit sie von der Keuschheit erschlagen werden.«
»Sind Menschen denn noch unschuldig, wenn sie das Kriegshandwerk erlernt haben?«, warf die braungebrannte Königin Umilante ein, die mehrere Lagen Kleidung übereinander trug und dennoch fröstelte. Ihr wüstenhaftes Reich bot ihr höhere Temperaturen als Porista.
»Man könnte sie auch der Länge nach verschnüren, ihre Schädel zuspitzen und sie in Pfeilkatapulte spannen, damit sie die Avatare durchbohren.« Belletain imitierte das Geräusch eines fliegenden Geschosses, sein Zeigefinger zielte auf den Pokal und schnellte vorwärts. »Ssst, mittendurch.« Der Behälter kippte um. »Seht Ihr? Es würde gehen.«
Niemand achtete auf den Vorschlag des wahnsinnigen Nachfolgers von König Lothaire.
Prinz Mallen deutete zu König Nâte. »Eure Anregung ergab bislang am meisten Sinn.« Er schaute zu Liútasil. »Oder könnt Ihr uns etwas dazu berichten? Kennt Euer Volk solche Gegner, und wenn ja, was hat es gegen sie unternommen?«
Ehe der rothaarige Elb antworten konnte, wies sein Begleiter zur Linken voller Hass auf die Delegation der Zwerge. »Da sitzen unsere Gegner! Verräterische Unterirdische, die feige gemordet haben und nun hoffen, dass ihre Taten in dem Durcheinander nicht auffielen.«
Boïndil sprang in die Höhe. »Nimm das sofort zurück, Spitzohr, oder ich schwöre...«
»Boïndil, sei ruhig!«, schmetterte Gandogar, und Boëndal und Balyndis zogen Ingrimmsch zurück.
»Was schwörst du?«, höhnte der Elb und sprang ebenfalls auf, stützte sich auf den Tisch und lehnte sich vor. »Dass du mich tötest? Würdest du denn einen offenen Angriff wagen, wo es um den Mut deines Volkes so schlecht bestellt ist? Wie viele von uns habt ihr in den letzten Sonnenumläufen bereits gemeuchelt und den Tod unserer Freunde den Albae untergeschoben?«
Andôkai erhob sich, ihre Augen sprühten Funken vor Zorn. »Hinsetzen!«, rief sie harsch. Beide gehorchten ihr auf der Stelle. Niemand wollte sich ihren Unmut in Form eines schmerzhaften Zaubers zuziehen. »Erst reden wir über Dinge, die wichtiger sind. Danach können wir meinetwegen über die Fehde zwischen Euren Völkern sprechen.«
Ihre Stimme verhallte in dem gewaltigen Raum, als es laut gegen das Portal hämmerte. Narmora eilte auf einen Wink ihrer Mentorin zum Einlass und öffnete einen Flügel.
Vor ihr standen Rodario und ein sichtlich erschöpfter Zwerg, von dem ein stechender Schweißgeruch ausging. Weiße Salzkränze hatten sich auf seinem Ledergewand gebildet.
»Hallo, meine Schöne der Schatten. Hier, diesen und seine drolligen Kumpane habe ich am Tor gefunden«, hob der Mime in seiner unnachahmlichen Art zu sprechen an, doch das ließ der Zwerg nicht lange mit sich machen.
»Ich bin Beldobin Ambosskraft aus dem Clan der Eisennagel vom Stamm des Ersten. Der Stellvertreter von Königin Xamtys, Gufgar Ambosskraft aus dem Clan der Eisennagel, schickt mich zu euch«, stellte er sich selbst vor und deutete hinter sich. »Der Lange ließ mich ein, als er sah, wen wir euch bringen.«
Narmora schaute über ihn hinweg und sah die Bahre, die von zwanzig Zwergen getragen wurde.
Auf der sich gefährlich durchbiegenden Konstruktion aus Balken, Schilden und kleinen Rädern darunter lag Djerůn. An seinem Visier und anderen Stellen der Rüstung haftete getrocknete grellgelbe Farbe. Seine Linke hielt sein in der Mitte durchgebrochenes, mit Orkblut beschmiertes Schwert, die Rechte eine Keule, an der Hautfetzen und Haare hingen. Sie hatten seine Finger nicht öffnen können und ihm die Waffen belassen.
»Wir wissen nicht, was mit ihm ist. Wir haben ihn vor West-Eisenwart aufgelesen. Wir wussten ihm nicht zu helfen, und so dachten wir, es sei das Beste, ihn zu seiner Herrin zu bringen.«
»Ihr habt richtig gehandelt. Kommt also herein«, entschied Narmora und öffnete die Tür, dann eilte sie in die Mitte der Kuppelhalle. »Ehrenwerte Maga, seht, wen unsere Freunde zu uns bringen.«
Die Zwerge schoben die Bahre vorwärts und brachten sie neben Narmora zum Stehen. Dann grüßten sie Gandogar und Xamtys, um sich an die Tür zurückzuziehen. Sie hatten ihren schweren, Kraft raubenden Auftrag erfüllt.
»Djerůn!«, rief Andôkai. Sie legte ihr Schwert auf den Tisch und verließ eilends ihren Platz, um nach ihm zu sehen.
»Zurück!«, schrie Balyndis warnend, sprang auf und griff nach ihrer Axt. »Hütet Euch! Das ist nicht Djerůn!«
Andôkai kam neben ihrem Vertrauten zum Stehen und blickte die Schmiedin überrascht an, stumm eine Erklärung fordernd.
Doch dazu reichte es nicht mehr.
Der Koloss erwachte aus seiner Leblosigkeit, und mit einer einzigen Bewegung rammte er der Maga das geborstene Schwert in den ungeschützten Bauch. Er sprang von der Bahre, zog ein zweites Schwert und drosch mit der Keule nach Narmora, die sich durch einen beherzten Sprung zur Seite mitten in die Delegation Tabaîns rettete. Sie hörten das Furcht einflößende Grollen und sah das violette Leuchten hinter dem Visier des Helms.
»Djerůn«, ächzte die Maga bestürzt und stierte auf die breite Klinge, die immer noch in ihr steckte. Sie machte einen Schritt rückwärts, zog sich den Stahl aus dem Leib und langte nach ihrer eigenen Waffe. Einen Zauber murmelnd, um ihre Wunde zu schließen, hielt sie sich bereit, einem neuerlichen Angriff zu begegnen.