Bei Tageslicht wäre es einfach gewesen, Wula und mich selbst auf einen der breiten Äste zu heben, doch jetzt war es zu spät. Wir konnten jetzt nichts anderes tun, als uns behaupten und uns so gut wie möglich gegen alle Angreifer zu wehren. Das erste Röhren schien allerdings nur ein Signal gewesen zu sein, denn was ihm folgte, war ein unbeschreiblicher Höllenlärm. Wir mußten uns mitten in einer Herde aus Hunderten, wenn nicht Tausenden wilder Dschungeltiere befinden.
Und dieses infernalische Heulen währte die ganze Nacht. Warum sie uns nicht angriffen, ahnte ich damals nicht und kann es mir auch heute noch nicht vorstellen; ich weiß nur, daß ich niemals ein wildes Tier auf einem der orangeroten Rasenflecke im Sumpf gesehen hatte, auch später nicht.
Als der Morgen heraufdämmerte, waren sie immer noch da und gingen immer am Rand des Grasfleckens im Kreis herum. Man kann sich nicht eine wildere, blutrünstigere Meute vorstellen als diese. Nach Sonnenaufgang – im Wald wurde nur die Dämmerung ein wenig heller – verschwanden die Tiere einzeln und in Paaren zwischen den Bäumen. Als das letzte weg war, machte ich mich mit Wula auf den Weiterweg.
Gelegentlich sahen wir im Lauf des Tages von weitem eines dieser schrecklichen Tiere, aber zum Glück entfernten wir uns niemals weit von diesen orangefarbenen Rasenflecken, und selbst wenn sie uns erblickten, endete die Verfolgung regelmäßig an deren Rand. Gegen Mittag kamen wir zu einer gut gebauten Straße, die in jene Richtung lief, welcher wir folgten. Sie war das Werk geschickter Ingenieure und schien ziemlich alt zu sein, wenn auch in ausgezeichnetem Zustand und offenbar häufig befahren. Ich nahm daher an, daß sie zu einer der größeren Städte von Kaol führte.
Als wir von einer Seite her die Straße betraten, erschien aus dem Dschungel auf der anderen ein ungeheuer großes Tier, das sofort auf uns losstürmte.
Man stelle sich einmal eine kahlgesichtige Hornisse von der Größe eines preisgekrönten Herefordbullen vor, dann hat man in etwa ein Bild dessen, was wir sahen. Und dieses Untier, das mit Riesenflügeln ausgestattet war, drang nun auf mich ein.
Angesichts der entsetzlichen Kiefer vorne und eines mächtigen, giftigen Stachels hinten war mein Langschwert kaum mehr als ein unnützes Kinderspielzeug. Wie sollte ich mich damit auch nur verteidigen können? Und diese riesigen Augen mit den Myriaden Facetten bewegten sich blitzschnell, sowie ich mich auch nur ein wenig rührte. Mit diesen schrecklichen Augen konnte das Untier in alle Richtungen sehen, und zwar gleichzeitig und ohne den Kopf zu drehen. Sogar mein starker, furchtloser Wula war vor diesem grauenhaften Wesen hilflos wie ein neugeborenes Kätzchen. Flucht wäre nutzlos gewesen. Außerdem habe ich einer Gefahr noch nie den Rücken zugewandt. Also blieb ich stehen, Wula neben mir. Er knurrte zornig. Ich konnte nur hoffen, daß ich so sterben konnte, wie ich immer gelebt habe – als Kämpfer.
Die Kreatur war nun direkt über uns, und nun sah ich, daß wir doch eine winzige Chance hatten, das Biest zu besiegen. Wenn ich die schreckliche Drohung des Giftstachels beseitigen konnte, der von großen Giftsäcken gespeist wurde, dann war der Kampf ein wenig aussichtsreicher.
Ich befahl also Wula, den Kopf des Tieres anzugreifen und sich fest anzuhängen. Als sich Wulas mächtige Kiefer in dieses abstoßend häßliche Gesicht schlugen und die Fangzähne sich tief in eines der Facettenaugen bohrten, tauchte ich unter dem riesigen Tier durch, das sich gleichzeitig in die Höhe hob und Wula damit in die Luft zerrte, um das unbequeme Wesen mit dem Giftstachel zu töten.
Es konnte meinen sofortigen Tod bedeuten, wenn ich mich in die Stoßrichtung dieses speergleichen Giftstachels begab, doch mir blieb nichts anderes übrig, als gerade das zu tun. Als der Giftspeer mir mit Blitzesschnelle entgegensauste, schwang ich mein Langschwert und trennte mit einem gewaltigen Hieb dieses Mörderglied unmittelbar am kräftig gezeichneten Körper des Tieres ab.
Dann traf mich aber eines der mächtigen Hinterbeine wie ein Rammbock in die Brust, und ich flog atemlos und halb betäubt quer über die breite Straße in das Randgebüsch der anderen Seite. Zum Glück prallte ich nicht an einen Baumstamm, denn dann wäre ich mindestens schwer verletzt, wenn nicht tot gewesen, mit solcher Wucht hatte mich das riesige Hinterbein über die Straße katapultiert. Taumelnd kam ich auf die Beine, und taumelnd eilte ich auch Wula zu Hilfe, der sich im Kopf der Riesenhornisse festgebissen hatte und mindestens zehn Fuß über dem Boden schwebte. Unablässig versuchte das Untier mit allen sechs kräftigen Beinen meinen Wula zu t r e f f e n .
Zum Glück hatte ich auch während des Fluges mein Schwert nicht losgelassen, und so rannte ich auf das Tier zu und stach mit der scharfen Spitze immer wieder auf das Ungeheuer ein.
Offensichtlich verstand dieses Tier wenig von einem strategischen Rückzug, denn es hätte leicht mit Wula davonschwirren können, sondern es ließ sich auf mich herunter, und ehe ich noch entrinnen konnte, hatte es meine Schulter zwischen seinen gewaltigen Kiefern. Immer wieder stieß der Stummelstachel gegen meinen Körper, nur konnte er nicht mehr stechen; doch schon die Schläge waren etwa so wirksam wie ein kräftiger Pferdetritt, und allmählich hätte mich der Stummel sicher zu einer formlosen Masse zerschlagen.
Viel hätte dazu nicht mehr gefehlt, aber da wurde das Untier zum Glück für mich daran gehindert – für immer.
Ich hing ein paar Fuß hoch über der Straße und konnte ihr ein paar hundert Yards weit mit den Augen bis zu einer Biegung nach Osten folgen. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, diesem Biest je entrinnen zu können, als ich um die Kurve einen Roten Krieger kommen sah.
Er ritt eines jener schönen, kleinen Thoats, die von den Roten Marsbewohnern bevorzugt werden und hatte in der Hand eine lange, glänzende, sehr schlanke Lanze.
Erst ritt er ganz gemächlich dahin, doch dann sah er uns, und nun trieb er sein Tier zu einem etwas schlenkernden Galopp an. Die lange Lanze senkte sich ein wenig, und als Thoat und Reiter vorbeijagten, durchbohrte die Lanze den Körper unseres Gegners.
Das Ding schüttelte sich ein wenig und versteifte sich; die Kiefer erschlafften und ließen mich auf die Straße fallen. Dann knallte das Untier mit dem Kopf voran auf die Straße, begrub aber dabei Wula unter sich, der diesen scheußlichen Kopf nicht eine Sekunde losgelassen hatte.
Als ich noch nicht richtig auf den Beinen stand, kam der Reiter schon zu uns zurück. Ich befahl Wula, den toten Feind loszulassen, und er kroch auch richtig unter dem schweren Kadaver heraus. Miteinander stellten wir uns dem Krieger, der von der Höhe seines Reittieres zu uns heruntersah.
Ich begann dem Fremden für seine rechtzeitige Hilfe zu danken, doch er schnitt meine Worte entschieden ab.
»Wer bist du, und wie kannst du es wagen, das Land Kaol zu betreten und in den königlichen Forsten des Jeddak zu jagen?« fragte er. Dann bemerkte er unter der Kruste aus Blut und Schmutz, die mein Gesicht bedeckte, meine weiße Haut, und seine Augen wurden ganz groß vor Ehrfurcht. »Ist es möglich, daß du ein Heiliger Thern bist?« flüsterte er.
Sicher hätte ich den Mann für eine ganze Weile täuschen können, wie ich auch andere vor und nach ihm getäuscht habe, aber ich hatte in Gegenwart von Matai Shang die gelbe Perücke und das Diadem weggeworfen und wußte außerdem, daß mein neuer Bekannter früher oder später doch entdecken mußte, daß ich gar kein Thern war.
»Ich bin kein Thern«, erwiderte ich also, schlug alle Vorsicht in den Wind und fuhr fort: »Ich bin John Carter, Prinz von Helium, dessen Name dir sicher nicht gänzlich unbekannt ist.«
Erst waren seine Augen riesig groß geworden, und jetzt drohten sie ihm aus dem Kopf zu fallen, da er nun wußte, daß ich John Carter war. Ich griff ein wenig fester um mein Langschwert, denn nun mußte ich mit einem Angriff rechnen. Zu meinem grenzenlosen Erstaunen blieb er jedoch aus.
»John Carter, Prinz von Helium«, wiederholte er langsam, als könne er den Gedanken nicht fassen. »John Carter, der mächtigste Krieger von Barsoom!«