Dann stieg er von seinem Thoat ab und legte mir zum freundlichsten Gruß, den man auf dem Mars kennt, die Hand auf die Schulter.
»Es wäre meine Pflicht und müßte auch mein größtes Vergnügen sein, dich zu töten«, sagte er, »aber in meinem innersten Herzen habe ich immer deine Tapferkeit bewundert, John Carter, und ich glaube auch deiner Aufrichtigkeit, während ich den Therns und ihrer Religion schon seit sehr langer Zeit mißtraue.
Würde Kulan Tith meine häretischen Gedanken auch nur ahnen, würde das meinen sofortigen Tod bedeuten. Doch ich will dir zu Dienst sein, Prinz. Du hast Torkar Bar, Dwar der Straße von Kaol, nur zu befehlen.«
Des Kriegers ehrliches Gesicht und seine noble Haltung drückten eindeutige Ehrlichkeit aus, und ich vertraute ihm daher, wenngleich er auch mein Feind hätte sein müssen. Daß er Captain der Straße von Kaol war, erklärte seine Anwesenheit im tiefsten Urwald, denn auf Barsoom wird jede der großen Straßen von edlen, tüchtigen und furchtlosen Kriegern überwacht. Es gibt keinen ehrenhafteren Dienst als den in den einsamsten Gebieten eines Landes, denn er kann nur von aufrechten, unerschrockenen Männern versehen werden.
»Torkar Bar hat schon eine große Dankesschuld auf meine Schultern geladen«, erwiderte ich und deutete auf den Kadaver der Riesenhornisse, aus dem noch immer der lange Speer ragte.
Der Rote Krieger lächelte. »Es war ein glücklicher Zufall, daß ich rechtzeitig kam«, antwortete er. »Ein Sith kann nur mit diesem vergifteten Speer schnell genug getötet werden, um seine Beute zu retten. In diesem Gebiet von Kaol sind wir alle mit diesen Speeren ausgerüstet, denn dessen Spitze ist mit dem Gift präpariert, mit dem das Untier tötet. Kein Gift wirkt nämlich bei diesem Tier so schnell wie das eigene.«
Er zog den Speer heraus, nahm einen Dolch vom Gürtel und machte etwa in Fußhöhe über der Wurzel des Stachels einen tiefen Einschnitt. Er zog zwei Säcke heraus, deren jeder mindestens eine Gallone der tödlichen Flüssigkeit enthielt.
»So ergänzen wir unsere Vorräte«, fuhr er fort. »Wir hätten davon eigentlich genug, denn der Sith ist fast ausgerottet; doch das Gift wird auch kommerziell genützt.
Nur gelegentlich treffen wir noch auf ein solches Tier. Früher kamen diese schrecklichen Untiere jedoch in Herden von zwanzig oder dreißig, überfielen unsere Städte und trugen Frauen und Kinder und sogar Krieger weg.«
Blitzschnell überlegte ich mir, was ich diesem Mann über die Mission sagen konnte, die mich in dieses Land geführt hatte, doch seine folgenden Worte lösten dieses Problem schon, und ich war froh, nichts gesagt zu haben.
»Und jetzt zu dir selbst, John Carter«, sagte er. »Ich werde dich nicht fragen, in welchen Geschäften du hier bist, und ich will davon auch nichts hören. Ich habe Augen, Ohren und eine durchschnittliche Intelligenz, und gestern früh sah ich auch die Gruppe, die vom Norden her in einem kleinen Flieger zur Stadt Kaol kam. Ich bitte dich nur um eines – um das Wort von John Carter, daß er keine feindselige Tat gegen die Nation von Kaol oder seinen Jeddak plant.«
»Darauf hast du mein Wort, Torkar Bar«, erwiderte ich.
»Mein Weg führt mich die kaolinische Straße entlang, weg von der Stadt Kaol«, fuhr er fort. »Ich habe keinen Menschen gesehen, am allerwenigsten John Carter. Und du hast keinen Torkar Bar gesehen und nicht einmal von ihm gehört. Hast du verstanden?«
»Perfekt«, sagte ich.
Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Diese Straße führt auf dem kürzesten Weg zur Stadt Kaol. Ich wünsche dir Glück.«
Damit schwang er sich auf sein Thoat und trottete davon, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzutun.
Es war schon dunkel, als ich durch die Randbäume des riesigen Forstes die hohe Mauer erspähte, welche die Stadt Kaol umgibt. Wir waren ohne weitere Zwischenfälle oder Abenteuer weitergewandert, und wenn wir einmal auf das eine oder andere Tier trafen, so beäugte es Wula nur neugierig; ich selbst hatte mir den ganzen Körper mit roter Pflanzenfarbe eingeschmiert.
Es war eine Sache, das Land zu durchqueren, eine andere jedoch, die bewachte Stadt des Kulan Tith, Jeddak von Kaol, zu betreten. Kein Mensch kann auf dem Mars eine Stadt betreten, ohne haargenau Auskunft über sich selbst zu geben; und sie muß recht zufriedenstellend sein. Ich redete mir auch nicht ein, auch nur einen Moment lang die Offiziere der Wache täuschen zu können, vor die man mich sofort führte, wenn ich an eines der Tore kam.
Meine einzige Hoffnung schien die zu sein, im Schutz der Dunkelheit in die Stadt zu kommen; war ich erst einmal drinnen, dann konnte ich mich auf meinen Verstand verlassen und mich in einem dicht bevölkerten Viertel verstecken, wo man mich kaum entdecken würde. Mit dieser Absicht folgte ich der Stadtmauer im Schutz des Waldes, in den parallel zur Mauer eine breite Schneise geschlagen war, damit kein Feind sich unbemerkt nähern konnte.
Ein paarmal versuchte ich die Mauer an verschiedenen Stellen zu bezwingen, doch nicht einmal meiner irdischen Muskelkraft gelang es, den sehr klug angelegten Wall zu meistern. Bis zu einer Höhe von dreißig Fuß neigte sich nämlich die Mauer nach außen; in etwa der gleichen Höhe war sie dann senkrecht, und die letzten fünfzehn Fuß bis zur Mauerkrone waren wieder nach außen überhängend. Und wie glatt sie war! Poliertes Glas hätte auch nicht glatter sein können. Ich mußte also schließlich zugeben, daß ich eine barsoomische Festung entdeckt hatte, in die auch ich nicht eindringen konnte.
Ziemlich entmutigt zog ich mich in den Wald neben der breiten Straße zurück, die vom Osten her zur Stadt führt, und legte mich neben Wula schlafen.
6. Ein Held in Kaol
Es war Tag, als mich eine ständige leise Bewegung aufweckte. Auch Wula streckte sich und spähte mit gesträubter Mähne durch die Büsche zur Straße hinüber.
Erst konnte ich gar nichts sehen, aber dann entdeckte ich ein bißchen glänzendes, glattes Grün, das sich zwischen dem Gelb, Purpur und Scharlach der Vegetation bewegte.
Ich bedeutete Wula, er solle dort bleiben, wo er war und kroch ein Stück vorwärts. Hinter einem dicken Baum sah ich eine lange Reihe grüner Krieger aus den Gründen der Toten See, die sich im dichten Dschungel neben der Straße versteckten.
Soweit ich sehen konnte, war es eine Reihe von Tod und Zerstörung, die sich bis zur Stadt Kaol hinzog. Die grünen Krieger schienen den Auszug einer größeren Truppe Roter aus dem Stadttor zu erwarten, und nun lagen sie im Hinterhalt, um sie zu überfallen. Ich schuldete dem Jeddak von Kaol keine Untertänigkeit, aber er gehörte derselben edlen Rasse Roter Menschen an wie meine Prinzessin, und ich würde auf keinen Fall dabeigestanden haben, um zu sehen, wie die Grünen, die grausamen, herzlosen Dämonen der barsoomischen Wüsten, diese noblen Menschen abschlachteten.
Sehr vorsichtig zog ich mich also zu Wula zurück, gebot ihm Schweigen und bedeutete ihm, mir zu folgen. Ich schlug einen großen Bogen, um nicht den Grünen versehentlich in die Hände zu fallen und erreichte schließlich die große Mauer.
Gute hundert Yards rechts von mir lag jenes Tor, aus dem offensichtlich die Truppen erwartet wurden; wenn ich es jedoch erreichen wollte, mußte ich mich an der Flanke der Grünen entlangbewegen, und da konnten sie mich natürlich beobachten. Mein Plan, die Kaolianer zu warnen, wäre damit sicher durchkreuzt worden, und deshalb entschied ich mich für die linke Seite, wo in etwa einer Meile Entfernung ein weiteres Tor in die Stadt führte.
Ich wußte, daß das Wort, das ich brachte, der beste Paß für Kaol sein würde, und ich muß zugeben, daß meine Vorsicht eher auf meinen dringenden Wunsch, in die Stadt zu kommen, zurückzuführen war als auf den, einen Zusammenstoß mit den Grünen zu vermeiden. Ich liebe den Kampf, und ich kann mich auch nicht immer zurückhalten, aber jetzt hatte ich gewichtigere Dinge zu bedenken als die, wie ich das Blut fremder Krieger vergießen konnte.
Konnte ich hinter die Stadtmauern gelangen, dann mußte sich auch in der allgemeinen Verwirrung und Aufregung wegen der Invasionsversuche der Grünen eine Möglichkeit finden lassen, zum Palast des Jeddak zu kommen, wo Matai Shang und seine Gruppe sicher Quartier erhalten hatten.